Sicher im Strassenverkehr

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Unser Gastschreiber Jean-Louis Frossard hat sich sein Berufsleben lang mit Verkehrsfragen beschäftigt, insbesondere mit dem Velo- und Fussverkehr. Mit dem Thema Verkehrssicherheit befasst er sich auch im folgenden Text.

Seit 1998 wohne ich im Niederdorf, und zwar an bevorzugter Lage am Limmatquai. Meine kleine, aber schöne Wohnung im obersten Stock ermöglicht einen wunderbaren Ausblick auf die Limmat, der nur noch übertroffen wird von der Rundumsicht auf unserer Dachterrasse. Die steht allen Bewohnerinnen und Bewohnern im Haus zur Verfügung und ermöglicht tolle Grillpartys im Sommer. Wir nutzen sie gerne, durchaus auch gemeinsam.
Nach meiner Scheidung verspürte ich einen unbändigen Wunsch nach «schöner Wohnen». Etwa nach dem Motto: «Wenn es jetzt schon so sein soll, dass ich alleine leben muss, dann wenigstens an einem schönen Ort». Den geniesse ich jetzt seit über 20 Jahren in vollen Zügen.
Zürich hat es immer gut mit mir gemeint. Das hört man nicht so häufig von jemandem, der in Basel aufgewachsen ist. Aber für mich stimmt es. Die Ausbildung an der ETH hatte mich damals nach Zürich geführt, das ist allerdings schon 45 Jahre her.
Mittlerweile bin ich «AHV positiv». Ich blicke zurück auf ein erfülltes Berufsleben als ein Verkehrsplaner, der sich hauptsächlich mit der Sicherheit im Strassenverkehr auseinandergesetzt hat.
Das war eine schöne Aufgabe, und wer weiss, vielleicht ist es mir als selbständig arbeitendem, beratendem Ingenieur ja gelungen, schlimme Verkehrsunfälle zu verhindern, die sich ohne mein Zutun hätten ereignen können. Ich werde es nie erfahren.

Für den Velo- und Fussverkehr
Mein hauptsächliches Aufgabengebiet war der Schutz und die Sicherheit der nicht-motorisierten Verkehrsteilnehmenden. Damit sind Zu-Fuss-Gehende und Radfahrende gemeint. Unter anderem war ich über 16 Jahre lang als Velo-Ombudsmann im Auftrag der Stadt Zürich tätig: Ratsuchende konnten sich – anfangs vor allem telefonisch, später auch online – an mich wenden, und ich habe mich anschliessend bei der Stadtverwaltung für Verbesserungen ihrer Verkehrssituation engagiert und eingesetzt.
Heute fühle ich mich ein wenig frustriert. Wenn ich das Haus verlasse, muss ich mich zuerst sorgfältig nach links und rechts umschauen, um nicht – trotz verkehrsarmem Limmatquai – von einer Velofahrerin auf dem Trottoir umgefahren zu werden. Ich wähle hier bewusst die weibliche Form, denn diese Spielart der Gewalt wird meiner Beobachtung nach mehrheitlich von Frauen ausgeübt. Gewalt ist nicht immer nur männlich.
Es stört mich, dass die Radfahrenden sich je länger je weniger an die Verkehrsregeln halten. Ich habe mich ein Berufsleben lang für die Förderung des Veloverkehrs eingesetzt: Ist das jetzt das Resultat?
Zum Glück nicht nur. Es gab auf dem ganzen Stadtgebiet Zürichs in den vergangenen Jahrzehnten viele Verbesserungen. Die Radstreifen und Radwege bieten Schutz, und vor Lichtsignalanlagen kann man vielerorts mit dem Velo rechts vorfahren und sich vor den Autos aufstellen.
Die meisten Einbahnstrassen dürfen heute mit dem Velo in der Gegenrichtung befahren werden. Gerade diese Massnahme hatte früher viele Gegner, das Öffnen von Einbahnstrassen für Velos wurde oft als «gefährlich» eingestuft, was es aber nicht ist, denn man sieht sich immer gegenseitig. Niemand im Auto fährt Radfahrende bewusst über den Haufen.

Falsches Sicherheitsgefühl
Was heisst das überhaupt, eine Verkehrssituation ist «gefährlich»? Oft wird wahre Sicherheit verwechselt mit einem – trügerischen – Sicherheitsgefühl. Das sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Ein Beispiel: Ein Fussgängerstreifen am falschen Ort sorgt für ein tückisches, falsches Sicherheitsgefühl und schafft gar keine Sicherheit, wie das viele meinen. Die meisten Fussgängerunfälle passieren am Streifen. Es hat schon einen Grund, wenn die Behörden an gewissen Stellen die Markierung eines Fussgängerstreifens bewusst ablehnen.

Unbedingt verkehrsfrei?
Für hitzige Diskussionen sorgt oft auch der Ruf nach verkehrsfreien Zonen. Ist es wirklich eine gute Idee, zum Beispiel den Zähringerplatz völlig verkehrsfrei zu gestalten? Dies kann zur Folge haben, dass er – wie die Bahnhofstrasse – zeitweise verödet, oder gerade umgekehrt, dass darauf permanent Party gefeiert wird, was schon heute für unerträgliche Zustände sorgt. Wer denkt an die Leute, die da wohnen?

Gut oder nur gut gemeint?
Mein lebenslanger Einsatz für mehr Sicherheit im Strassenverkehr hat mich eines gelehrt: Die gute Lösung liegt oft nicht einfach so auf der Hand. Vieles ist komplexer als man denkt, es braucht Fachwissen und Erfahrung. Gesucht sind Lösungen, die wirklich gut sind, nicht nur gut gemeint.
Dazu folgende Geschichte: Es gab eine Zeit, da stand Indien unter britischer Regierung. Es herrschte im Land eine fürchterliche Schlangenplage, woraufhin der britische Gouverneur eine Prämie für jede erlegte und abgelieferte Kobra aussetzte. Zunächst ging das gut: Die Inder gingen auf Schlangenjagd, die Zahl der Kobras nahm in der Folge stark ab. Mit der Zeit begann die Bevölkerung jedoch, Kobras zu züchten. Natürlich mit dem Ziel, die Prämie zu kassieren, was sich als sehr lohnend herausstellte. Der Trick flog auf, und die Prämie wurde wieder abgeschafft.
Damit ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende. Die Inder liessen nun die Kobras, die sie noch hatten, und die ihnen jetzt nichts mehr einbrachten, frei. Es gab eine erneute Schlangenplage – und die war viel schlimmer als die Erste.
Eine Massnahme, die eigentlich zu einer Verbesserung hätte führen sollen, verkehrte alles ins Gegenteil und verschlimmerte die Situation. Fehlentscheide dieser Art nennt man deshalb «Kobra-Effekt».

Jean-Louis Frossard

Unser Gastschreiber
Jean-Louis Frossard (1955) ist in Basel aufgewachsen. Nach der Matura studierte er an der ETH, wo er 1979 das Diplom als Bauingenieur im Bereich Verkehrsplanung erlangte und anschliessend vier Jahre als Assistent und wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. Danach machte er sich selbständig als Verkehrsingenieur mit Spezialisierung auf nicht-motorisierten Verkehr. 1984 organisierte er das erste internationale Fahrradplanungsseminar der Schweiz. Sechzehn Jahre war er Velo-Ombudsmann der Stadt Zürich. Er war gesamtschweizerisch beratend tätig, insbesondere im Bereich Verkehrssicherheitsforschung. Im Oktober 2019 ging er in Pension. – Er lebt seit 1974 in Zürich, seit 1998 in der Altstadt.

Foto: EM