Stadtflucht ins Zentrum

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Unser Gastschreiber Régis Vuilliomenet hat fast sein ganzes bisheriges Leben in Zürich gewohnt. Pläne, aufs Land zu ziehen, haben er und seine Familie einstweilen hintan gestellt.

Ich bin in Zürich aufgewachsen, im Kreis 7. Neben einem Fussballplatz, auf dem ich so gut wie meine gesamte Freizeit verbracht habe. Meine Eltern wollten oft wegziehen in eine grössere Wohnung, doch ich stellte mich quer, weil ich so verwurzelt war.

Mit 20 bin ich ausgezogen, innerhalb des Kreises 7, dann hab ich einen Abstecher in den Kreis 1 gemacht, um wieder via Kreis 8 in den Kreis 7 zu ziehen. Ich bin also nicht sehr weit gekommen und kann von mir behaupten, dass ich mein ganzes Leben – von einem Austauschsemester in Paris abgesehen – in der Stadt Zürich verbracht habe. Vor vier Jahren wurde ich zum ersten Mal Vater und dieses wundervolle Ereignis hatte – welch Überraschung – einen nicht unbedeutenden Einfluss auf mich gehabt.

 

Neue Realität

Während ich seit dem zarten Alter von etwa 15 Jahren so gut wie all meine Wochenenden im Zürcher Nachleben verbracht hatte, sah ich mich plötzlich mit einer neuen Realität konfrontiert. Am Tag arbeiten und am Abend Familie und danach ab ins Bett, um noch ein wenig Erholung zu erheischen.

Meine soziale Einbettung in Zürich hat sich schlagartig verändert und dadurch auch meine Wahrnehmung von der Stadt. Viele soziale Kontakte blieben auf der Strecke und damit fiel auch ein Teil meiner Inspirationsquelle weg, der Aufbruchstimmung und Jugend. Es vollzog sich ein Shift – von der Extrovertierheit in die Introspektive.

Diese und andere Faktoren haben dazu geführt, dass mir Zürich (zunächst) abhanden gekommen ist. Ich empfand die Stadt als uninspirierend und langweilig. Das Mittelmass, welches Zürich tugendhaft zelebriert und verkörpert, ist mir wieder stärker ins Bewusstsein gerückt. Der zwinglianische Geist ist immer noch gut zu spüren, das Streben nach Durchschnitt ein allerseits anerkannter Ausdruck von Bescheidenheit und gesellschaftlichem Erfolg. Ja, mutig sein wird in dieser Stadt leider (noch) zu selten belohnt. Aber man darf sich ja nicht beschweren, schliesslich dürfen wir uns einer sehr stabilen und hochstehenden Lebensqualität erfreuen.

 

Aufs Land ziehen

Mir wurde bewusst, dass Zürich nicht unbedingt damit brilliert, eine anonyme, pulsierende Grossstadt zu sein, sondern eher durch ihre Nähe zur Natur, insbesondere zur einzigartigen Schweizer Bergwelt. So entschieden wir, dass wir aufs Land ziehen wollen, einen Garten für die Kinder, Ruhe, Weite – mehr Raum, um Inspiration aus dem eigenen Inneren schöpfen zu können. Weg aus dem Tal zwischen Uetliberg und Zürichberg.

Und dann kam die Pandemie – und plötzlich wollten alle aufs Land ziehen. Wir haben noch eine Weile gesucht, aber nie etwas Geeignetes gefunden. Mal entdeckten wir ein hübsches Häuschen in einem entlegenen Weiler. Mal eine Wohnung, die gut mit dem ÖV erschlossen war. Wer hätte das gedacht: Alles hatte irgendeinen Haken. Und zuletzt stand die Frage, weshalb aufs Land ziehen, wenn man am Ende in einem bünzligen Reihenhausquartier landet oder die Kinder jeden Morgen, Mittag und Abend per Auto herumchauffieren muss? Landeier sagen jetzt sicherlich, die naiven Städter seien sofort überfordert, wenn nicht alles in Gehdistanz erreichbar ist. Das mag sein. Jedenfalls hat es nicht sollen sein und es blieb (vorerst) beim Gedankenexperiment, bei einer romantischen Vorstellung des ländlichen Lebens.

Und der Umstand, dass die Pandemie viele Leute bewogen hatte, aufs Land zu ziehen, half auch nicht. Denn ich bin Zeit meines Lebens eher antizyklisch unterwegs.

 

Flexibel bleiben

Unsere Suche auf dem Lande war nicht sehr erfolgreich, möglicherweise waren wir auch zu wenig risikobereit. Durch Zufall und Glück haben wir nun eine Bleibe in der Altstadt gefunden, weshalb wir unsere Pläne kurzerhand über den Haufen warfen. Ganz nach dem Motto: Der Garten kann warten.  – Sowohl meine Frau wie auch ich haben früher bereits im Niederdorf gelebt, während unserer Studentenzeit. Ich erinnere mich gut und gern daran, dass ich mich hier sehr geborgen und aufgehoben gefühlt habe. Ich hatte lediglich eine kleine Kammer im ersten Stockwerk, mit Nordexposition und zwar direkt am Seilergraben. Keine besonders einladende Gesamtsituation. Aber immer, wenn ich zur Tür rausging, Richtung Dorf, erfreute ich mich eines erfrischenden Windes. Einer Mischung aus Historie und Schmelztiegel. Die vielseitigen und co-existierenden Lebensentwürfe auf engstem Raum, die autofreien Gassen, die Diversität der hier wohnenden und arbeitenden Menschen und die vielen Gegensätze bilden einen anregenden Nährboden für kreative Kapriolen. Es existiert ein gut geölter Groove, der sich über die letzten Jahrhunderte verfeinerte und setzte und der zuverlässig alles zusammenhält. Es braucht nicht viel Anstrengung, um mitzumachen. Ja, die Altstadt ist schon gut eingelebt. Eine Metropole in Kleinformat, die eher an ein Dorf erinnert als an eine Grossstadt.

Vielleicht ist es dieser grosse autofreie Stadtgarten, mit all seinen Windungen und Wendungen, den wir auf dem Land in der Natur gesucht haben und jetzt hier in Form von vielen Farben und Ideen wieder vor uns finden.

Nun, wir freuen uns sehr auf ein Landleben im Zentrum, auf neue Bekanntschaften auf dem Dorfplatz und auf unser neues Basislager, als Ausgangspunkt für zukünftige Abenteuer.

Und wer weiss, vielleicht wird Zürich irgendwann doch noch eine Millionenstadt. Ich jedenfalls würde mich ausgesprochen freuen.

 

Régis Vuilliomenet

 

Unser Gastschreiber

Regis Vuilliomenet (1985) ist in Zürich im Kreis 7 aufgewachsen. Er besuchte zwölf Jahre die Steiner-Schule. Es folgte das Jus-Studium an der Uni Luzern, 2016 erlangte er das Zürcher Anwaltspatent. Fortan arbeitete er als Rechtsanwalt, Schwerpunkt Baurecht. Derzeit Anstellung bei einem Family Office als Legal Counsel, mit einem halben Pensum. Parallel dazu hat er 2021 eine Softwarefirma gegründet im Bereich Beschaffungsrecht. Daneben entwirft er Kleider.

Während der Studienzeit hat er ein paar Jahre an der Chorgasse gelebt; im Frühling kann er mit seiner Frau und den zwei Kindern wieder im Niederdorf heimisch werden. In seiner Freizeit macht er experimentelle Musik und geht gern schwimmen.

 

Foto: EM