Schwindliger Weihnachtsstern?

Unsere diesjährige Weihnachtsgeschichte hat Kathrin Rehmat, Pfarrerin an der Predigerkirche, verfasst.

Kennen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, den Schwindel der Freiheit? Es ist ein Gefühl, das einen beim Schritt ins Leere erfassen kann. «Ich setzte den Fuss in die Luft, und sie trug» nannte Hilde Domin diesen Akt der Freiheit, der mit dem Abgrund zwar rechnet, ihn sieht, aber eben nicht sicher, sondern nur möglicherweise hineinfällt. Denn es könnte auch, unverfügbar zwar, etwas da sein, das wider Erwarten trägt. Der Stern (im Bild rechts) sieht schwindlig aus. Aber das täuscht, er steht fest installiert im klaren System seiner symmetrischen Anlage. So leuchtet er oben auf dem Wirtschafts- und Energieministerium in Berlin zwar zunächst wirr und chaotisch, aber unten weisen die Leuchtstrahlen in geraden Linien auf klare Arbeitsplätze hin, an denen konzentriert für das Wohl und das Licht in der Stadt gearbeitet wird. Ein schöner leuchtender Stern steht da oben, würde eine Mutter sagen, deren kleine Tochter so einen ähnlichen mit Buntstift zeichnet. Sie würde die Schönheit des Sterns sogleich sehen. Ein postmodernes Werk sehen künstlerische Augen. Eins, das nicht gefallen muss. Mich lädt dieser Stern ein, das Licht und seine Koordinaten zugleich zu beachten, darin menschliche Möglichkeiten zu erkennen, wie Leuchten entsteht, es für heute neu zu erahnen. In aller Freiheit eben.

 

Offenes Adventsfeuer
Vielleicht leuchtet Ihnen im Gespräch an einem offenen Adventsfeuer vor einer der Altstadtkirchen dieses Jahr auch ein heller Stern entgegen. Die Erinnerung an den Stern in Bethlehem. Augensterne lächeln, wenn Menschen sich begegnen, die es freut, einander zu sehen. Jetzt ist es Advent. Das heisst Zukunfts- und Erfüllungszeit. Spürbar im seltsamen Wechselspiel von Mangel und Fülle. Momente, in denen mir alles zu viel wird, lassen mich denken: Wie wäre es, 500 Jahre nach der Reformation einmal das Umgekehrte zu versuchen, nicht das Fasten zu brechen, weil der Hunger zu gross ist, sondern es neu einzuüben, weil die Probleme mit der Überfülle und Sattheit auch gelöst werden möchten? Wie wäre es, dieses Jahr ganz selbstbestimmt ein «weniger ist mehr» und alles «so einfach wie möglich, aber nicht einfacher» zu feiern? Bei Erich Kästner gibt es ein Gedicht, das dichtet: «Er hatte kein Geld und sie hatte keins, da machten sie Hochzeit und lachten sich eins. Zu Weihnachten malten sie kurzerhand, Geschenke mit Buntstiften an die Wand…»

 

Sonnwendfeiern
Die Feier der Geburt Gottes als Mensch im Stall – oder wenn es Ihnen lieber ist, in einer Höhle, jedenfalls arm und auf dem historischen Weg zur ersten Volkszählung – wurde einige hundert Jahre später als unsere Weihnachtszeit datiert. Rund 1500 Jahre ist es her. Mit dem Untergang des römischen Reiches, anstelle des alten «Sol invictus»-Kultes, passend zu den nördlichen Sonnwendfeiern. Soweit plausibel, scheint es mir, wenn auch die Ordnungen schon damals leider deutlicher strategische als barmherzige Züge trugen.

Mit dem Advent beginnt das jährliche Abenteuer mit Zukunft, die Geburt des Kindes wird mit Freuden und Bangen erwartet und gefeiert. Die christliche Welt beginnt zu glitzern und zu schillern. Ob wir wollen oder nicht, die Dunkelheit wird überwunden. Die Tage werden wieder länger. Gott sei Dank ist nicht alles, was glänzt oder leuchtet, auch strategisch. Im Glanz des Schönen und Herzerwärmenden ist tröstlich, liebevoll und funkelnd anregendes Erleben überraschend verborgen. Mit dem jüdischen Jesuskind, abseits aller Pracht geboren, begann vor langer Zeit ein neues Ringen um das friedliche Miteinander von extrem verschiedenen Perspektiven.

 

Auch das Schöne sehen
Zwar sind wir noch heute weit entfernt vom Frieden unter Menschen auf Erden, den die Engel dank Gottes Wohlgefallen über dem unschuldigen Kind herbei singen. Der hellste Stern leuchtet am Geburtsort, so dass er von Suchenden gefunden und besucht werden kann. Heute leuchtet er anders als damals. Aber es gibt noch Sterne. Und auch den einen Stern, den wichtigsten, der am hellsten leuchtet und orientieren hilft, den – glaube ich – gibt es auch für uns. Dem Jesuskind und seinen Eltern stehen grosse Herausforderungen bevor. Als erstes eine Reise mit einem Esel nach Aegypten.

Die Geburtsstunde der Flucht und des internationalen Tourismus beginnen wie trotzig zerstrittene Geschwister ihre Reisen und Wanderungen durch die Zeit. Wo steht diese Geschichte heute? Es mag es einer merken oder nicht, es fällt durch den Wunderstern von dazumal auch heute auf manches ein freundliches Licht, paraphrasiere ich Wilhelm Busch. Doch damit kommt der Schwindel wieder zurück. Freundlich oder unfreundlich prägt die Atmosphäre ziemlich stark. Fliehen heute wohlhabende Menschen vor Konflikten und arme Menschen vor Not? Oder ist unterwegs zu sein für einige Menschen quasi genetisch vorgesehen und darum im Grund richtig? Was dann die Sesshaften ärgert, die nicht Aufbrechen möchten. Freundlich oder nicht freundlich besehen, der Scherbenhaufen ist gross, nicht nur der Christliche. Wir haben alle Einzelscherben in Händen oder vor Augen und der offene Vergleich dieser farbigen Glasstücke ist abenteuerlich. Glück ist, wenn gelegentlich im Einzelnen das Ganze aufleuchtet. Glücklich ist, wer sich, auch wenn es trüb aussieht, zusammenrappeln und anderen die Hand reichen kann. Das finde ich schon ziemlich weihnächtlich und geburtlich. Das Schöne offenbart sich in den einfachsten Dingen. Ein Lichtstrahl an der Wand, ein wohlriechender Duft nach Zimt oder Orangen oder ein heller Klang können so schön sein, dass innere Verkrampfungen sich lösen und Irrtümer über das Sollen und Wollen im Nichts verpuffen. Dass leuchtende Sterne innen und aussen neu und manchmal sogar sichtbar werden.

 

Licht im Dunkeln
Wie feiern Sie diese Zeit? Feiern Sie mit Geschenken oder sind Sie froh, wenn es keine gibt, weil Ihnen nichts fehlt und es Ihnen keine Freude bereitet, Ihre Wohnung mit unnötigem Klamauk zu füllen? Lehnen Sie religiöse Bräuche zur Steigerung Ihrer Freude ab oder lassen Sie sich durch Geschichten vom Licht in dunkler Zeit trösten? Adventskalender, die Geburt Christi, die Kirchengeschichte oder ein spannungsvolles Familientreffen sind ja keine einfachen Glücksgaranten. Vielleicht vermögen ein paar Tage im Süden ein halb erfrorenes Herz etwas aufzutauen?

Ja, dem Weihnachtstern wird es über den Möglichkeiten schwindlig. Angst sei der Schwindel der Freiheit. Das wusste auch Oskar Pfister, der mit Sigmund Freud im Briefwechsel und befreundet war und während 37 Jahren (1902 bis 1939) als Pfarrer an der Predigerkirche seelsorgerlich wirkte. Der Liebe und Angst des Einzelnen in seinem Kontext ernst und wahr nahm. 1944 gab er ein Buch über das Christentum und die Angst heraus. Der Weg zur Erleuchtung, sagen Buddhisten, führe der Angst entlang.

Licht im Dunkeln und Wärme im Kalten können Menschen für einander werden. Manche Augenpaare beginnen hoffentlich von innen zu leuchten in dieser Zeit. Vielleicht am Feuer vor den Altstadtkirchen, die den Stern aus Betlehem mitten unter uns neu zum Leuchten bringen. Dort tauschen wir uns über Freuden, Engel, Wunder und glückliche Erinnerungen im ausgehenden Jahr aus. Das Vergessen trauriger Dinge kann gut tun. Das Erinnern manchmal auch, weil es heilen hilft. Selbstvergessene Arbeit ist ein ausgezeichnetes Glückselixier. Einen neuen Stern zu zeichnen, zu bauen oder ihn mit dem inneren Auge zu sehen, das setzt den alten Stern in neues Licht. Wie wäre das, wenn Erinnern und Vergessen in eine schöne Balance kommen würden?

Möge Ihnen Ihr Stern hell leuchten. Hoffentlich lädt er Sie auch ein, das alte und neue Lied vom Frieden auf Erden mit anzustimmen. – Frohe Weihnachten!

 

Kathrin Rehmat