Atem holen

Unsere diesjährige Weihnachtsgeschichte hat Niklaus Peter, Pfarrer am Fraumünster, verfasst. Er geht dabei der Frage nach, was es bedeutet, geboren zu werden, was das Grundlegende ist.

Die Weihnachtsgeschichte ist eine einzigartige Geburtsgeschichte. Noch nach 2000 Jahren zünden wir Kerzen an, singen alte Lieder und machen uns gegenseitig Geschenke – und zugleich ist es eine Geburtsgeschichte wie jede andere auch. Im Buch der Weisheit Salomos heisst es: «Auch ich habe, als ich geboren war, Atem geholt aus der Luft, die allen gemeinsam ist, und bin gefallen auf die Erde, die alle in gleicher Weise trägt; und Weinen ist wie bei den andern mein erster Laut gewesen und bin in Windeln gelegt und voll Fürsorge aufgezogen worden. Denn auch kein König hatte jemals einen andern Anfang seines Lebens, sondern sie haben alle denselben Eingang in das Leben und auch den gleichen Ausgang.» (Weisheit Salomos 7.3-6) Hier denkt ein Mensch über die Grundlagen seines Lebens nach, über die «Basics» sozusagen. Wie er nach der Geburt zuerst – wie alle Menschen, mit oder ohne Klaps – tief Atem holt, die Luft, die allen Menschen gemeinsam ist, einatmet, und dann, weil alles so neu und beängstigend ist, zuerst einfach laut weint oder leise wimmert. Und dann in Windeln gelegt, von seinen Eltern gehalten, gewiegt, getröstet wird. Bei allen Menschen, selbst bei einem König ist es nicht anders, der gleiche Lebensbeginn mit dem ersten Atemzug. Und dann sagt dieser Text: Auch das letzte Atemholen ist bei allen Menschen gleich. Mag es Unterschiede geben, und es gibt riesige Unterschiede – wo du geboren wirst, was die Startbedingungen sind, arm oder reich, und was du dann erarbeiten kannst und wirst, da gibt es empörend grosse Unterschiede. Anfang und Ende aber sind gleich: Einatmen, Ausatmen.

Abseits von Guetzligerüchen
Vielleicht ist das ein besserer Einstieg, weil wir die Geschichte vom Christkind schon so viele Male gehört haben, immer von geheimnisvollen Weihnachtslichtern beleuchtet. Und fast immer von besonderen Gerüchen begleitet, von Tannennadelnduft oder Guetzligerüchen, von einem Kirchengerüchlein… – Vielleicht sollte man die Geburt Jesu für einen Moment von all diesen religiösen Beleuchtungen und Wunderlichtern und Düften befreien: Einatmen, Angst, Schreien, Gehalten- und Getröstetwerden – und Windeln. So beginnt ein Leben, das so vielen Menschen so viel bedeutet, bis es mit einem letzten Aushauchen enden wird – bis nach dem Karfreitag am Ostermorgen dann ein wirklich neues Kapitel aufgeschlagen wird.

Sinnlich wahrnehmen
Luftholen, Einatmen – eine ganz normale Geburt, erst später kommen mit den Evangelien die Geschichten und Glaubenssätze von der Bedeutung dieser Geburt hinzu, die Engel, die Hirten, die drei Weisen aus dem Morgenland, die Wunder und das Wunderliche. Sie erzählen von der Bedeutung dieses einzigartigen Menschen. Aber diese Glaubenssätze und Dogmen können ihre Aussagekraft auch verlieren. Deshalb ist es gut, wieder bei den «Basics» einzusetzen: der menschlichen Geburt, dem Luftholen, Einatmen, abgenabelt auf dem Sprung in die eigene Freiheit. Aber eben auch Ängste, Weinen, und Windeln.
So ging es auch Franziskus von Assisi im Mittelalter, dem die theologisch-dogmatische Rede von Christus zu abstrakt, zu kalt, zu dogmatisch geworden war, deshalb spielte er mit seinen Leuten in Assisi die Geburt Jesu nach, um sie spüren zu können, mit allen Sinnen wahrzunehmen – und daraus wurden später die Krippenfiguren und Weihnachtsspiele: Man wollte den so irdischen Anfang der Heilsgeschichte nacherleben. Und wenn man die Marien-Bilder mit dem Jesuskind der christlichen Kunstgeschichte anschaut, so sieht man eine ähnliche Entwicklung: Maria in der Spätantike (und noch in der Romanik) mit einem Kind, das kein Kind, sondern ein Gott ist, steif, unnahbar. Und erst später kommen bei Giotto, bei Botticelli, Bellini Leben und Gefühle in die Bilder: Maria, die liebevoll ein Neugeborenes hält – ein Kind, das wie alle Menschen menschlich geboren wurde: Einatmen, Angstmomente, Weinen, Getröstetwerden, und Windeln.

Vom Grundlegenden
Weshalb nicht für einmal beim Grundlegenden bleiben – beim Atemholen? Denn Atem heisst nicht nur einfach Luft. Mit dem ersten Luftholen wird deutlich, noch vor allem Hunger und Durst, dass wir nicht autarke, sondern abhängige Wesen sind, auf Luft, auf Nahrung, auf Kommunikation angewiesen: «Auch ich habe, als ich geboren war, Atem geholt aus der Luft, die allen gemeinsam ist, und bin gefallen auf die Erde, die alle in gleicher Weise trägt.»
Luft, die allen gemeinsam ist, heisst auch: Worte, die aus vibrierender Luft gebildet werden, Worte, vielleicht Wiegenlieder, Geschichten, die wir zuerst noch nicht verstehen, dann aber seelische Räume für uns öffnen: Sinn, Liebe, Zuwendung, Hoffnung – kostbare Worte. Und langsam beginnen wir in die Welt der Kultur, auch der Religion, hineinzuwachsen – wir lernen, mit anderen zu kommunizieren über das, was fürs Leben und was im Leben wichtig ist. Paulus sagt es im 1. Korintherbrief 13 sehr einfach und schön: «Die Liebe hat den langen Atem, gütig ist die Liebe, sie eifert nicht. Die Liebe prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf.» – Das ist für mich der schönste, weihnächtlichste Gedanke: Die Liebe hat den langen Atem.

Niklaus Peter