Der Geschichte auf der Spur

Immer wenn auf dem Lindenhof eine Linde ersetzt werden muss, löst dies eine archäologische Ausgrabung aus, da sonst wichtige Überreste der Zürcher Stadtgeschichte unwiederbringlich verloren gehen würden. Denn hier stand einst ein römisches Kastell… – Derzeit ist wieder eine solche Baumlochgrabung im Gang.

«Bereits die Kelten haben hier gesiedelt, im 1. Jahrhundert vor Christus», erklärt Andreas Motschi, Projektleiter Archäologie Stadt Zürich. «Im gleichen Jahrhundert sind dann auch die Römer gekommen.» Wir stehen auf dem Lindenhof, der markanten Erhebung inmitten der Altstadt. Im Bereich der westlichen Mauer, also zum Rennweg hin, ist eine Baustelle. Doch nicht in die Höhe, in die Tiefe geht es hier. Auf zweieinhalb mal zweieinhalb Meter wird gegraben. Anlass dazu ist die bevorstehende Neupflanzung einer Linde durch Grün Stadt Zürich im Frühling.
Seit Andreas Motschi bei der Archäologie der Stadt Zürich arbeitet, seit 2003, ist das bereits die zehnte Grabung dieser Art, die er begleitet. Immer wenn eine Linde ersetzt werden muss, löst dies eine Ausgrabung aus. So ergibt sich die Gelegenheit, mehr zu erfahren über die Geschichte dieser wichtigen Stätte. Bereits früher wurde hier gegraben: In den Krisenjahren 1937/1938 hat der Archäologe Emil Vogt junge Arbeitslose in einer Art Beschäftigungsprogramm eingesetzt für Ausgrabungen. Diese Forschungsgrabungen verliefen in schmalen Grabungsschnitten zwischen den Linden über den Lindenhof. Denn die Auflage der Stadt war es, die Baumwurzeln zu schonen. Heute gräbt man also dazwischen – wo eine Linde gestanden hat – und kann so Emil Vogts Beobachtungen ergänzen und verfeinern.

Von zentraler Bedeutung
Im 4. Jahrhundert, in spätrömischer Zeit, haben die Römer auf dem Moränenhügel ein Kastell erbaut, einen Befestigungsbau mit dicker Umfassungsmauer, zwei Toren und sieben Türmen, es war eine kriegerische Zeit. Dieses Kastell blieb lange stehen, wurde zum Kern der Stadtentwicklung von Zürich und gibt dem Lindenhof bis heute seine Form. Die heutige Brüstungsmauer sitzt im Westen, Süden und Osten auf der Kastellmauer. Dieses römische Bauwerk hinterlässt eine starke Spur in Zürichs Stadtbild. Die Kastellmauer ist das älteste Bauwerk von Zürich. (Das meiste Sichtbare der Lindenhofmauer stammt aus dem 15. Jahrhundert.)
Im Mittelalter, vom 9. bis 13. Jahrhundert, standen hier oben, limmatseitig, nacheinander zwei Königspfalzen, das heisst temporäre Residenzen von Königen und Kaisern, die sie nutzten, wenn sie die Stadt besuchten oder auf der Durchreise waren. Die erste der Pfalzen wurde ersetzt, die zweite dann zerstört, im Jahr 1218. Seither ist der Lindenhof eine unüberbaute Fläche. Was es für die Archäologie so spannend macht, aber auch die Anforderungen zum Schutz des «Archivs im Boden» erhöht. Denn hier gelangt man schon wenig unter der Oberfläche auf intakte archäologische Schichten.
Im 15. Jahrhundert nahm die Stadt eine Neugestaltung an die Hand. Die römischen Kastellmauern wurden überbaut, erhöht. Und es wurden Linden gepflanzt. Schon damals diente der Lindenhof, mit Steintischen ausgestattet, der Bevölkerung als Grünanlage. Und er ist bis heute ein Freiraum geblieben.

Funde und Befunde
Grabungsleiter vor Ort ist Patrick Moser, es arbeitet hier eine Dreierequipe unter Einhaltung der aktuellen Abstandsregeln. Unten im Loch ist gerade Philipp Schürmann daran, die säuberlich etikettierten Befunde zeichnerisch festzuhalten. Bei der Ausgrabung ist man erwartungsgemäss auf die römische Kastellmauer gestossen, die ursprünglich acht bis zehn Meter hoch gewesen sein dürfte. Darauf steht das Fundament der Mauer aus dem 15. Jahrhundert. Gelbe Täfelchen im oberen Bereich markieren eine Lehmschicht, die der Lehmboden eines Gebäudes gewesen sein mag.
Bereits hat die Grabung eine Tiefe von 2.6 Metern erreicht. Und es wird weiter gegraben, noch etwa anderthalb Meter, bis man auf die Moräne stossen wird und die durch die Baumpflanzung und das Wurzelwerk gefährdeten Schichten untersucht und dokumentiert sind.
So klein die flächenmässige Ausdehnung der Grabung auch ist: Bereits hat man einen Steinbockschädel mit Hörnern gefunden, der an der unteren Kante bearbeitet ist und der vielleicht an einer Wand oder über einer Tür aufgehängt war, als Trophäe. Ebenso zum Vorschein gekommen ist römische Keramik, darunter die Scherbe einer Amphore für Olivenöl aus Südspanien und ein verziertes Bruchstück einer Schüssel. Dazu kommt eine römische Münze, die Kaiser Konstantin zeigt, aus dem 4. Jahrhundert.
Zur Bedeutung der Funde sagt Andreas Motschi: «Durch diese Funde erhalten wir ein genaueres Bild von den baulichen Vorgängen auf dem Lindenhof und auch von den Lebensumständen unserer Vorfahren.»

Elmar Melliger

Die Grabungsarbeiten werden noch bis etwa Ende Juli fortdauern. Vor Ort informieren Tafeln über das ganze Vorhaben und die geschichtlichen Zusammenhänge.
Siehe auch: https://www.stadt-zuerich.ch/archaeologie; Ausgrabung Lindenhof 2020.