Von Heimat und Heimkehr

Bild zum Artikel

Unser Gastschreiber Sascha Emanuel Kramer ist beruflich oft abwesend und geniesst das Nachhausekommen und das Dasein in der Altstadt doppelt.

Letzthin gestand mir mein Partner, Ruedi Schneider, dass er am Abend meiner Heimkehr nach einem längeren Gastengagement im Ausland oft das Fenster zum Rindermarkt hinaus offenstehen lässt, damit er schon von weitem meinen Koffer über die Pflastersteine rollen hört, was meine baldige Rückkehr ankündigt. Vorfreude ist ja bekanntlich die schönste Freude! Und dann öffnet er mir die Tür und hilft mir mit dem schweren Gepäck die schmale, steile Treppe hoch. Und nicht selten muss ich mich, vor lauter Glücksgefühlen, an solch einem schönen Ort leben zu dürfen, gedanklich selbst kneifen.

Wie ein Heimkehren
Vor über zwanzig Jahren probten wir bei den Zürcher Sängerknaben jeweils in der Freien Evangelischen Schule im Oberdorf und so kam es, dass ich nach den Proben ab und zu noch ein paar Schritte durch das Dörfli schlenderte. Ich lebte damals auf dem Land, die Stadt war mir zwar nicht ganz fremd, aber ich kannte sie auch nicht wirklich. Wie überwältigend die farbigen Dachgiebel und die hohen, schmalen Häuser damals auf mich wirkten! Das blosse Bewusstsein ob der Tatsache, dass in diesen Häusern seit Hunderten von Jahren Menschen lebten, liebten, litten, lachten und weinten, dass sie sich oft über die exakt gleichen Dinge den Kopf zerbrachen wie der kleine Junge, der ich damals war, hat mich irgendwie stets berührt.
Gut zehn Jahre später, als junger Student, kam ich wiederum in Kontakt mit dem Dörfli, denn nun wohnte ich zum ersten Mal in der Zürcher Altstadt (an der Krebsgasse). Es musste wohl so sein, jedenfalls fühlte es sich an wie die lang ersehnte Heimkehr.
Zu dieser Zeit schrieb ich gerade an meinem Masterabschluss in Jura zum Thema «Kirche und Staat bei Huldreych Zwingli». Ich erinnere mich nicht mehr an alles aus dieser Arbeit, aber ein bestimmtes Gefühl, welches mich in jenen Tagen oft begleitete, festigte weiter meine inneren Bande mit dem Dörfli. So schlenderte ich oft nach einem langen Tag in der Bibliothek, nicht selten mit mir und der Welt hadernd, durch die Gassen des Dörflis nach Hause und dachte über Gelesenes nach. In meinem Kopf formulierten sich Sätze, ich verwarf sie wieder und begann erneut von vorne. Und wenn ich durch die Kirchgasse runter zum Grossmünster ging, beruhigte mich so manches Mal der Gedanke, dass wohl auch Christoph Froschauer, Leo Jud oder Zwingli durch diese Gassen gingen, ihre Köpfe voll mit Gedanken und Ideen hatten, nachdachten und wohl auch ab und zu Gedachtes wieder verwarfen, zweifelten oder haderten.

Vor allem die Menschen
Seit nunmehr drei Jahren wohnen wir am Rindermarkt, und was ich heute als Heimat begreife, hängt auch mit dieser Zeitspanne zusammen. Heimat ist für mich sowohl ein Ort als auch ein Gefühl der Verbundenheit mit jenem Ort, mit den Menschen, die da leben, mit Düften in den einzelnen Gassen (die Ankengasse riecht doch anders als die Münstergasse!). Doch am Ende sind es nicht allein die olfaktorischen Wahrnehmungen, sondern wohl vor allem die Menschen, die zwar kommen und gehen, die aber den wahrscheinlich stärksten Eindruck hinterlassen. Was für eine Bereicherung, mit so vielen witzigen, kreativen, intelligenten, teils auch schrulligen Menschen zusammenleben zu dürfen!
Viele Menschen kenne ich zwar (noch) nicht mit Namen, aber man grüsst sich freundlich, fast so, als wolle man sich gegenseitig zu verstehen geben, dass man dazugehört.
So haben wir auch liebe Freunde im Quartier gefunden und Ruedi engagiert sich unter anderem auch als Gemeinderatskandidat der SP (Kreis 1&2) bei den kommenden Wahlen fürs Quartier. Wir dürfen Wurzeln an einem Ort schlagen, wo schon so viele Wurzeln sich unter dem altstädtischen Pflaster winden.

Spannende Persönlichkeiten
Wir leben hier und staunen ob der vielen spannenden und bereichernden Persönlichkeiten, die tagein, tagaus ihren Beitrag leisten zum Erhalt dieses ganz speziellen Ortes, unseres Dörflis.
Da sind zum Beispiel die immer wieder irrsinnig witzigen und anregenden Schaufenster vom genialen Antikschreiner Massimo Biondi. Oder wer hat schon das Glück, nur wenige Meter neben einem so grossartigen Bücherladen wie dem Travel Book Shop am Rindermarkt sein täglich Lesefutter beschaffen zu dürfen, beziehungsweise sich beim wunderbaren «Frisör» Julio Enebelo die Haare schneiden zu lassen. Und immer wieder finden, inmitten der engen Gassen der Altstadt, berührende Begegnungen mit Leuten statt, die von grossem Mitgefühl und Solidarität zeugen. Bei Florian Grunow alias «Herr Grün» bekomme ich nicht nur immer wieder die schönsten Blumen, sondern oft auch ein liebes, mitfühlendes Wort in einer Zeit, wo sich für mich als freischaffender Künstler doch so einiges verändert hat. Oder dann berichtete mir mein Partner während des ersten Lockdowns im letzten Frühjahr von einer Begegnung mit der Inhaberin unseres liebsten Schreibwarenladens («Papier 5») am Neumarkt, wodurch ein sehr liebevoller Kontakt entstand. In der Folge begann mein Partner, fleissig wie eine Biene, die im «Papier 5» eingekauften Karten zu beschriften und an Freunde und Bekannte zu verschicken. Denn Anita Bodmer, die Inhaberin dieses wunderbaren Ladens, bediente uns per Briefkasten-Service mit ihren einmalig schönen Karten.
Zum Abschluss aber noch einmal zurück zum Thema «Heimkehr». Die für mich wahrscheinlich berührendste Schilderung einer Heimkehr in der Literaturgeschichte ist wohl diejenige des so hoffnungsvoll aufgebrochenen und dann doch doppelt betrogen heimkehrenden «Martin Salander», geschrieben von Gottfried Keller. Und der Zufall will es, dass wir heute Wand an Wand zu dem Haus wohnen, in dem dieser grossartige Schriftsteller aufwuchs.
Wir haben das kostbare Privileg, einen Ort bewohnen zu dürfen, den wir heute Heimat nennen und wohin wir immer wieder heimkehren dürfen. Der Ort wird bleiben, die Menschen werden weiterhin kommen und gehen und wahrscheinlich werden die einzelnen Gassen einmal anders riechen. Aber eines Tages wird vielleicht eine andere Person ein ähnliches Gefühl von Heimat und Heimkehr verspüren, wenn sie am Rindermarkt durch die Tür in die Wohnung im ersten Stock tritt.

Sascha Emanuel Kramer


Unser Gastschreiber
Sascha Emanuel Kramer (1988) ist in Zürich aufgewachsen. Sein Jus-Studium an der Uni Zürich schloss er 2013 mit dem Master ab, es folgte eine Assistenzstelle, bis 2015. Bereits 2012 nahm er parallel dazu sein Musikstudium an der ZHdK auf, das er mit dem Bachelor abschloss. Zu singen begonnen hatte er bei den Zürcher Sängerknaben. 2015 wurde er Teil des Opernstudios an der Mailänder Scala und hatte seither gegen sechzig Auftritte an dem Haus. Es folgten zwei Jahre bei der Staatsoper Hamburg, bis 2018. Bereits 2017 begann er nach Zürich zu pendeln, seit 2018 lebt er mit seinem Partner Ruedi Schneider in der Altstadt und arbeitet als Freischaffender. Derzeit lernt er als fünfte Fremdsprache Russisch.
Er ist passionierter Berggänger und alpiner Bergsteiger.    Foto: EM