Göpf, das Dorf und ich

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Unser Gastschreiber Andy Aguirre Eglin erinnert sich an seine Kindheit in der Zürcher Altstadt. Die Zitate im Text stammen aus Gottfried Kellers «Grünem Heinrich».

142 Jahre nach letztem Erscheinen des «Grünen Heinrich» nähere ich mich «Göpf» auf dem Rundgang durch die Gassen der Zürcher Altstadt, die wir uns teilen als Kopfsteinpflaster einer ähnlichen Kindheit. Das allzu Menschliche nahm hier seinen Anfang: «Es war ein altes hohes Gebäude, mit vielen Räumen, von unten bis oben bewohnt wie ein Bienenkorb. Je höher man aber steigt, desto freundlicher und heller wird es… Den Tag über betrachtete ich das Leben in diesen Höfen… wunderfremd und doch bekannt kamen mir die Leute vor, wenn sie plötzlich in unserer Stube standen und mit der Mutter plauderten.»

1953 zog ich mit meiner Mutter, alleinstehend wie die verwitwete Mama Keller, in die Frankengasse 1 zu Liane und Salomon Browar. Hier standen die ärmlichsten Häuser, für Juden gerade recht als angewandte Sozialgeschichte. Gegenüber war ein Ramschladen: «In dem Haus gegenüber befand sich eine dunkle Halle mit Trödelkram angefüllt… auf altmodigen Tischen stand wunderliches Glasgeschirr und Porzellan aufgetürmt, eine schnörkelhafte Uhr, ein Kruzifix oder ein wächserner Engel.»

Bei Browars schwebte eine Plastikpuppe vergoldet am Faden über dem lila Klavier. Ein Glasauge federte von der Putte. Sie waren Bohemiens. Plaketten für die besten Masken am Künstlerball hingen an den Wänden. Schon im Sommer bastelten sie irrwitzigste Kostüme. Auch immerzu Fasnacht konnte den Tag ihrer Trennung nicht verhindern. Später politisierte der Architekt Browar als Grüner im Zürcher Gemeinderat.

Bleiben wir bei der jüdischen Avantgarde: Bis in die späten Sechzigerjahre stakte «d’Indermuur» mit ihrem langen violetten Schal unter der Habichtsnase zum Kino «Nord Süd», bis es der stets solariumbraune This Brunner «erben» konnte. Sie war bis ins hohe Alter eine Förderin des Films, geschätzte Freundin von Godard und Truffaut. Da wir schon beim «Select» stehen, treten wir ein in den Szenetreff jener Jahre: Als Hösi wirbelte ich den Schachspielern unter die Tische. Da sassen Arnold Kübler und Meret Oppenheim vor ganz normalen Tassen, «Diggi» (Walter M. Diggelmann) und «Dügg» (Werner Düggelin) berieten Max Frisch zum «Stiller», planten lauter Fahrradreisen: Paris, Cape d’Antibes oder nur nach «Mostindien». Sie waren stier. Kühne Lebensentwürfe finden kaum im Wohlstand statt!

Alleinstehend
Inzwischen fanden Rosina und ich eine eigene Wohnung. Mit damals wenigen Fränkli als Primarlehrerin weisselte sie die Dachwohnung an der Neustadtgasse 1. Wegen mir «Bastard» (altfrz. = Sohn eines Adligen und einer Frau niederen Standes) wurde sie lange nicht beamtet in den bigotten Fuffzigern. Doch gleich gegenüber fand auch die uneheliche Tochter von Jean-Pierre Gerwig Zuflucht. Der zu uns täglich aus dem Radio sprudelte, aber kaum je Zeit fand für ein Kinderherz.

200 Meter weiter oben an der herrschaftlichen Winkelwiese lebte die Journalistin Laure Wyss Zaun an Zaun mit «Stapi» Landolt. Sie war ebenso allein, schickte ihren Sohn aber auf eine Internatsschule. Es stimmt nachdenklich, dass sie sich untereinander nicht verständigten. Dabei gilt Laure Wyss als Ikone der Frauenbewegung. Einer ihrer Romane gilt einer Königin. Sie orientierte sich nicht nach unten zu einer einfachen Volksschullehrerin. Aber auch meine Mutter lud nie Jean-Pierre Gerwigs Tochter und deren Mama, eine Hilfskraft, zu uns, obwohl wir ein gastliches Haus pflegten. Die sozialen Schranken waren mächtiger als die Solidarität zwischen Frauen.

Der Chlausbrunnen
So streckte sich nachts der Mond herein, fauchten und wimmerten Katzen. Direkt unter dem Fenster, an dem ich im Rücken meiner Mutter schlief, plätscherte der Chlausbrunnen. Tagsüber setzte ich dort ein hölzernes Segelschiff aus oder badete nackig zum Entsetzen der Bäckersfrau Haas an der Ecke.

Als ich winters im «Duffle Coat» von den vereisten Streben fiel, rettete mich Päuli Jucker in ihre heisse Badewanne. Die etwas wirre, liebevolle Närrin Dutzender Katzen galt einst als eine der schönsten Frauen Zürichs. Roger Vadim wollte sie als Filmsternchen. Sie zeigte ihm die kalte Schulter. Stattdessen entblösste sie diese aus Liebe dem Magnaten Boveri. Als der Grossindustrielle ihrer überdrüssig wurde, fand er sie ab mit dem Riegelbau an der oberen Frankengasse. Mit den Jahren verblassend, hauste sie mit ihren Viechern und dem bartstoppeligen Saufkumpan Frankie, belastete die Mauern bis übers Dach mit Hypotheken. Im langen beigen Mantel schleppte sie drittklassige Peinturen zum Wiederverkauf. Nackt wie das «Meretlein» im «Grünen Heinrich» soll sie im Garten den Vollmond besungen haben. Wo ist sie zu viel an Seele, wo sind ihre irdischen Reste geblieben? – Hat sie Keller nicht vorweggenommen in der traurigen Episode vom wilden Mädchen! – Heute finde ich ihr Haus in neuem Putz in Händen, die sich nicht mehr anschreiben: Zutritt haben nur ihresgleichen.

Einige Meter weiter oben an der Frankengasse, vor der Mauer zur Villa Tobler, ging Jakob Müller aus Ascona bei Familie Salgo ein und aus. Es war der zarte Anfang von Gunda und Dimitri, vor dessen Versuch, einen Klappstuhl zu bändigen und dem Ritt auf dem Elefanten im Zirkus Knie.

Leben im Dorf
Direkt unter uns wohnte Schneider Gebauer, gar kein Meck, Meck, Meck! Wir teilten mit ihm das Klo am Ende des ausgestampften Tonklinkers. Eines Tages lag er schlohweiss und steif auf seinem Bett, der erste Tote in meinem Leben. Auf denselben Flur hinaus schmorte die spanische Familie ihre Fettwürste. Zu viert hausten sie im einzigen Zimmer. Komfort gab es keinen. Bis zum 11. Altersjahr badete ich in einem Zuber nach mehrmaligem Pfeifen des Kaldors auf Gasflammen. Erfrischung vom Hahn träufelte ich in Sommernächten Verliebten unter dem Küchenfenster ins Mieder. Bis in die Dunkelheit kickten wir Nachbarsbälge mit zerschundenen Knien den Fussball ins Tor so breit wie die Gasse. Oder ich wetteiferte in den Gärten hinter den Häuserzeilen mit den Katzen, wer schneller auf dem Kirschbaum war.

Abends vermischten sich viele Melodien. Im «Karl dem Grossen» probten Chöre. Der Polizist feierte sein Dienstende mit «Alles vorbei, Tom Dooley!» oder «Die Brücke am Kwai» – in unserem Munde: «Frölein, händ Sie mis Hündli gseh?». Nebst dem «Bauschänzli» paukte eine Kapelle vor dem «Terrasse», dessen Bühne später wegen der Haschischumtriebe an der Riviera abgerissen wurde. Vom See hornten die Dampfer ins Mark. Und schliesslich war da: «…ein langes, hohes Kirchendach… Darauf stand ein Türmchen, in welchem eine kleine Glocke hing, auf dessen Spitze sich ein goldener Hahn drehte. Wenn in der Dämmerung das Glöckchen läutete, sprach meine Mutter von Gott und lehrte mich beten; ich fragte: Was ist Gott? Ist es ein Mann? Sie antwortete: Nein, Gott ist ein Geist.»

Just solcher Fragen wegen verdarb ich es mir mit Lehrer Denzler. Auch er ein Gottlieb. Er wurde später Rektor im Theologischen Seminar. Unter den Linden des Schulhauses Wolfbach stellte ich des Nazareners Herkunft von diesem Geist in Frage. Irgend’en blöde Siech hät’s em täderlet… Jedenfalls holte er mich mit der Rute ins Chämmerli: «Ich hegte keinen Zweifel, weder an der Welt noch an mir, war froh im Herzen, aber je selbstzufriedener mein Gesicht war, desto mehr hielt mich der Schulmeister für einen frechen Schalk, dessen Bosheit gebrochen werden müsste…»

Wegsaniert
Gebrochen wurde meine Kindheit erst mit ihrer Wegsanierung. Wir waren unter den Ersten, die gehen mussten. Das Muffige aus den Jahrhunderten wurde «chic» und teuer. Das Haus meiner Kindheit «Zur Sonnenbluhm» (gebaut 1404) steht «seit 1964 unter Denkmalschutz». Die erfuhren, was das heisst, sind verstreut in alle Winde. Einen Jugendfreund hat es ganz verfrachtet. Seine Eltern betrieben eine Wäscherei im Schaufenster, aus dem italienisches Design in die Predigergasse blitzt. Die Ursache verlorener Heimat gilt als Ausrede. Ich habe meine Tränen auch überstanden. Sage ich, aber wahr ist es nicht. Dieses Gemischel unter dem Tischel. Das Kapital hat die Altstadt annektiert, die Kleinbürger vertrieben, von denen «Göpf» so lebendig erzählt. 12 000 wohnten hier vor Jahren, die Hälfte ist noch da oder wurde ausgewechselt… Über der Grabesstille der Altstadtgärten kreisen die Mäusebussarde wie Geier…

Bevor ich flügge wurde, schaffte es meine Mutter aus der Walachei wieder ins «Dorf» – in die «Gelbe Lilie» am Rindermarkt 15. Eine städtische Liegenschaft, zahlbar. Hier spielte um 1825 der Büebel «Göpf» aus dem Nachbarhaus Nr. 9 mit den Söhnen des Schuhmachers Rohrdorf und fand auf dem Estrich das Bildnis des «Meretlein». Womit die Schnittstellen zum Dichter des «Grünen Heinrich» seriell sind. Denn nachts grölten mir Betrunkene der «Öpfelchammer» in den Schlaf, den ich dringend gebraucht hätte, um nicht ohnmächtig in den Neunzigerjahren fast zu enden als Korrektor der Protokolle jener Regierung, der Keller als Staatsschreiber an der Wiege stand. Sie fegen gerade wieder ein Asylgesuch vom Tisch. Oder bewilligen einem reichen Verleger Zuschüsse für den Umbau und sein Wohnen im Baudenkmal.

Andy Aguirre Eglin


Unser Gastschreiber
Andy Aguirre Eglin (1952) wurde 1962 aus dem Paradies seiner Kindheit im Herzen der Zürcher Altstadt durch eine der ersten Luxussanierungen vertrieben. Das hatte, wie er sagt, eine Odysee zur Folge, die bis heute noch nachwirkt. So brach er kurz vor der Matura die Schule ab und bildete sich als Autodidakt und Gasthörer an mehreren Universitäten weiter. Dabei schlug er sich mit den verschiedensten Jobs durchs Leben. Früh gründete er eine Familie und ernährte diese als Erzieher, freier Journalist, Skilehrer, Korrektor, Lektor und Werbetexter. Daneben wurde er auch künstlerisch-intellektuell tätig als Schauspieler, Filmkritiker, Juror, Dramaturg und Autor. Derzeit arbeitet er an seinem ersten Spielfilm. Er ist Vater zweier erwachsener Kinder und lebt in Zürich sowie im Tessin.       

 

Foto: zVg