Weltmitte in Randlage

Unser Gastschreiber Rudolf H. Röttinger lebt im Haus, das sein Urgrossvater gekauft hat. Dieser ist als Glasmaler nach Zürich gekommen, wo er die Chorfenster für das Grossmünster schuf. Der Urenkel ist auch wieder bei der Sakralkunst angelangt.


Wie heisst es richtig: «Bou-Inschinör», «Bau-Inschinör» oder «Buu-Inschinör»? Stadtzürcher Dialekt ist die erste Fremdsprache, die ich im Kindergarten an der Schipfe 57 erlerne. Das Glarnerdeutsch meiner Mutter wird von den andern Kindern nicht verstanden oder gar belächelt. «Es Bliili» ist «en Bleistift». Punkt. Da mein Vater Zürichdeutsch spricht, lerne ich beide Dialekte und stelle meine Sprache automatisch um, wenn ich «dehinde» bin.

Nach dem Stadtbrand von 1861 erbaut Architekt Ferdinand Stadler die neue Stadtkirche von Glarus. Er zieht meinen aus Nürnberg eingewanderten Urgrossvater Johann Jakob Röttinger als Glasmaler bei. Stadler lernt ihn bei Bauarbeiten am Grossmünster kennen, wo Röttinger 1853 die seinerzeitigen Chorfenster mit dem lehrenden Christus, Petrus und Paulus erstellt. – Eine Generation später fügt es sich, dass meine beiden Grossväter in der Glarner Stadtkirche aufeinandertreffen: Der Glasmaler Heinrich Röttinger schafft nach einem Kirchenbrand in den 1940er-Jahren neue Chorfenster und der Lehrer Rudolf Tschudi spielt auf der gegenüberliegenden Empore die Orgel. Heinrich stirbt 1948 und wird nie erfahren, dass der Organist von vis-à-vis 1956 sein Gegenvater sein wird.

Ein Herz für die Eisenbahn
Seit Geburt wohne ich an der Oetenbachgasse, hart am Rand der «Altstadt-Kurier-Welt». Die Grenze lässt sich am Strassenbelag ablesen: Das Trottoir auf der Seite der geraden Hausnummern und des Amtshauses IV ist mit Asphalt belegt. Vor meinem Wohnhaus auf der gegenüberliegenden Seite liegen «Bsetzistei»; sie zeigen, dass auf dieser Gassenseite die Altstadt beginnt.

Ich wachse als Einzelkind im Lindenhofquartier auf. Nach dem Kindergarten folgen sechs Jahre Primarschule im Schulhaus Schanzengraben. Auf zwei Kindergärtnerinnen folgen drei Primarlehrerinnen. Im Gymnasium Freudenberg verlasse ich die Welt der Frauen: Der Lehrkörper besteht überwiegend aus Männern und die Schülerschaft ausschliesslich aus Jünglingen vom linken Seeufer, aus Uitikon und der Stadt Zürich links der Limmat. – Nach der Maturität und zwei Jahren Militärdienst folgt das Studium an der ETH Zürich. Der Haushalt meiner Eltern ist autofrei. Deshalb schlägt mein Herz seit früher Kindheit für die Eisenbahn; also wähle ich Bauingenieurwesen. Nach meiner Assistenzzeit wechsle ich als Nachwuchsingenieur zu den Schweizerischen Bundesbahnen. Die schönsten Berufsjahre erlebe ich bei der Inbetriebnahme der S-Bahn Zürich und der Projektierung der Bahn 2000. Meine Arbeitsorte wechseln zwischen Zürich und Bern ab. Meinem Wohnsitz in der Zürcher Altstadt bleibe ich treu und pendle täglich mit dem Zug zwischen Zürich und Bern.

Nach elf interessanten SBB-Jahren ruft die Familientradition: Wie meine Vorfahren will ich als Unternehmer selbst bestimmen, wo mein Arbeitsplatz ist und wie ich meine Arbeit organisiere. So eröffne ich an der Oetenbachgasse ein Büro für Ingenieurberatung auf dem Gebiet des öffentlichen Verkehrs.

Interesse an Geschichte
Meine Familie zeichnet sich durch eine langsame Generationenfolge aus: Mit dem Geburtsjahr 1817 der ersten und 1959 der vierten Generation ergibt sich ein durchschnittlicher Abstand von 47 Jahren. Damit lauscht der schreibende Urenkel noch Familienerzählungen, die tief ins 19. Jahrhundert zurückgreifen: Mir wird überliefert, dass meine Urgrossmutter 1869 aus ihrer Wohnung an der Oetenbachgasse noch ungehindert zur Waid blicken konnte.

Der Tiefblick zurück begründet mein Interesse für historische Zusammenhänge. Seit meiner Studienzeit mache ich kulturhistorische Stadtführungen in der Altstadt. Im Anschluss an eine Führung werde ich vom seinerzeitigen Pfarrer Ueli Greminger zum Turmwart St. Peter berufen. Mit diesem Ehrenamt engagiere ich mich an der Schnittstelle zwischen der Stadt Zürich als Turmeigentümerin und dem Kirchenkreis eins Altstadt, da das Langhaus der Kirche gehört.


Sakralkunst
Der Glockenturm St. Peter gibt bei den Zürcher Geläuten den Ton an; die übrigen 75 Läutanlagen auf Stadtgebiet sind mit wenigen Ausnahmen musikalisch auf das As-Dur-Geläut von St. Peter abgestimmt. Um meinem Publikum fundierte Inhalte zu bieten, absolviere ich in Deutschland die zweijährige berufsbegleitende Ausbildung zum Glockenexperten. Mein lebenslanges Interesse an klassischer Musik hilft mir, die für einen Ingenieur anspruchsvollen musiktheoretischen Hürden zu nehmen. So bin ich wieder bei der Sakralkunst, dem Thema meiner Vorfahren gelandet.– Exakt wie mein Vater heirate ich – das erste Mal – im Alter von dreiundfünzig Jahren. Meine Frau Petra stammt aus Ulm. Wie im 19. Jahrhundert übernimmt Süddeutschland wieder eine bedeutsame Rolle in der Familiengeschichte.

2014 eröffnen wir an der Oetenbachgasse das Boutique-Hotel Herzkammer, wo die Gäste unter dem Glasdach des ehemaligen Glasmalerateliers ihr Frühstück geniessen. Leider fällt der Publikumsliebling 2021 der Corona-Pandemie zum Opfer.

Doch zurück zur einleitend gestellten Frage: In traditionellem Zürichdeutsch heisst mein Berufsstand «Buu-Inschinör». Wir arbeiten «uf em Bou»; doch in zusammengesetzten Hauptwörtern wird er zu «Buu». Beim «Buuschänzli», der kleinen Schanze vor dem seinerzeitigen Wohnsitz des Stadtbaumeisters, hat sich der korrekte Vokal bis heute erhalten. «Buu-Inschinör» ist in Zürich wie in Glarus richtig; für einmal habe ich nicht umlernen müssen.


Unser Gastschreiber
Rudolf H. Röttinger (1959) ist in der Zürcher Altstadt aufgewachsen. Nach der Matura studierte er an der ETH und erlangte das Diplom als Bauingenieur. 1988 trat er eine Stelle bei den SBB an, 1999 wagte er den Schritt in die Selbständigkeit und eröffnete ein Büro für Ingenieurberatung. – Seit vielen Jahren macht er kulturhistorische Führungen in der Altstadt. Daneben ist er Turmwart am St. Peter und Glockenexperte. Er lebt zusammen mit seiner Frau Petra an der Oetenbachgasse. Im Haus, das er in vierter Generation bewohnt, betrieb er von 2014 bis 2020 das Hotel «Herzkammer» mit drei Zimmern.