Vom Alp- zum Stadtsegen

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In schwindelerregender Höhe, auf dem Karlsturm hoch über dem Grossmünster, nimmt Pfarrer Christoph Sigrist nach dem 18-Uhr-Geläute einen Holztrichter zur Hand und beginnt mit kräftiger Stimme, zuerst gegen Südosten, zu rufen: «Bhüeti Gott! Es walti Gott und sini Geischtchraft, Mänsch und Hab, und alles, wo da ume isch, bhüet eus d’Müettere und d’Vätere i Jesus Christus, Chind und Chegel, Alti und Jungi, Richi und Armi, Chranki und Gsundi…» Eigentlich ist es ein Singen. «Bätruef» nennt man das im Toggenburg, wo Christoph Sigrist früher Pfarrer war und wo sich der alte Brauch wie in der Zentralschweiz, in den Alpen, im Wallis bis heute erhalten hat, oder «Alpsegen». Er erschallt dort im Sommer allabendlich von der Alp ins Tal.
«Stadtsegen» heisst das in der grössten Schweizer Stadt. Ins Leben gerufen hat ihn Christoph Sigrist vor einem Jahr, als gerade eine Pandemie wütete, um den Menschen Trost zu spenden und Hoffnung. Der von ihm adaptierte Alpsegen schliesst in weiteren Strophen Menschen anderer Glaubensrichtungen mit ein in den Segen, ebenso Tiere und Pflanzen, in unserem Land und auf der ganzen Welt. In alle vier Himmelsrichtungen erschallt der durch den Holztrichter verstärkte Segensruf. Dies an vier Tagen in der Karwoche und zuletzt am Ostersonntag, 4. April 2021.
Dieses Jahr hat der archaisch anmutende «Stadtsegen» vom Grossmünsterturm herab ein Pendant erhalten: Vom Turm des St. Peter nämlich ruft Stefan Thurnherr ebenfalls den Segen, er ist Präsident des Kirchenkreis eins Altstadt.
Und wie ein besonderes Geschenk werden die beiden Männer an zwei Abenden unterstützt von der Toggenburgerin Sonja Lieberherr, die selber im Sommer z’Alp geht. Sie ist in der Tracht erschienen.
Wenn sie singt, mehr noch als bei den Männern, gerät etwas im Innern in Schwingung, fühlt man sich im Innern berührt.   

Elmar Melliger