Die Altstadt unterschiedlich erlebt

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Unser Gastschreiber Beat Liechti hat unterschiedliche Erfahrungen gemacht in der Altstadt. Sein Verhältnis zu ihr ist lange ein ambivalentes geblieben. Nun ist sie seit vielen Jahren sein Arbeitsort.

Meine Liebesbeziehung zur Altstadt ist über die Jahre nur langsam gewachsen. Meine Kindheit und Jugendzeit erlebte ich im damals idyllischen Gartenparadies Heuried am Fusse des Uetlibergs. Ich wuchs sehr behütet mit meinen zwei jüngeren Brüdern und meinen Eltern in einer kleinen Dreizimmerwohnung auf. Damals war die Altstadt rechts der Limmat für meine Eltern ein verruchter Ort, vor dem sie uns mehrfach warnten. Wie ich bei einem meiner ersten Besuche des Dörflis erfahren sollte, lagen sie nicht ganz falsch. Mit meinem ersten selbstverdienten Geld kaufte ich mir ein Jeansjäckchen. Dummerweise lief ich beim Hirschenplatz einer Gruppe Halbstarker in die Arme und ihr Anführer meinte, dass sein kleiner Bruder am nächsten Tag Geburtstag hätte und er sicher Freude an meiner Jacke haben werde. Um meinen Stolz erleichtert kehrte ich verängstigt und traurig in meine heile Welt zurück.

Unruhige Zeiten
Trotzdem weckte diese bunte, lebendige Dörfliwelt mein Interesse. Obwohl ich damals mit meinen Freunden mehr auswärts in den Ausgang ging (Jazzkeller Luzern), war ich öfters in der Altstadt anzutreffen. Dabei erlebte ich diese Welt mit all ihrer Facetten. Ich lernte spannende Menschen kennen, verweilte oft auf dem kreativen Rosenhofmarkt, liebte es, die kleinen Kinos zu besuchen, entdeckte spannende Läden und war in der einen und andern «Chnelle» Gast. Dort passierte es dann aber auch immer wieder, dass ich der aggressiven Seite dieser kleinen Welt begegnete und ich oft im Umfeld dieser Lokale Zeuge von Streitereien und Schlägereien wurde. So war mein Verhältnis zur Altstadt auch damals noch ambivalent. Während der KV-Lehre in einem Reisebüro in Oerlikon verlor ich die Altstadt wieder etwas aus den Augen. Dies änderte sich erst später, nach meiner Ausbildung zum Sozialpädagogen, als ich im Durchgangsheim Florhof in der Nähe des Kunsthauses während neun Jahren arbeitete. Natürlich hatte die Nähe zum Dörfli für unsere Jugendlichen eine magnetische Anziehungskraft. Es war auch die Zeit der Jugendunruhen, wo die Aggression das Dörfli alles andere als verschonte und sich viel Zerstörungswut entlud. Viele unserer Jugendlichen hielten sich damals im Autonomen Jugendzentrum AJZ auf oder lebten «auf der Gasse». So war ich wieder viel im Dorf unterwegs, um unseren Jugendlichen Gesprächsangebote zu machen und sie dazu zu bewegen, wieder ins Heim zurückzukehren. Gewisse Lokale am Hechtplatz liessen Langhaarige wie mich nicht mehr ein. Keine einfache Zeit und so wars auch mit meiner Liebe zum Dörfli.

Lebendige Oberdorfstrasse
Das änderte sich aber mit meinem nächsten wichtigen Lebensabschnitt. Mit Kollegen eröffnete ich im März 1990 den Spieleladen «Rien ne va plus», damals noch im Seefeld. So konnte ich mein langjähriges Hobby zum Beruf machen. Ganz nach dem Motto «mach dein Hobby zum Beruf und du musst nie mehr arbeiten». Fünf Jahre später wagten wir den Umzug in die Innenstadt, an die schöne Oberdorfstrasse. Von Anfang an fühlten wir uns dort willkommen, merkten aber auch, dass einige der andern Ladenbesitzer daran zweifelten, dass wir mit unserem Angebot dort länger existieren könnten. Aus meiner Jugendzeit erinnere ich mich daran, dass in diesem langweiligeren Teil der Altstadt vor allem Antiquitäten- und Möbelgeschäfte ansässig waren, bevor sich später viele Kleiderläden dort ausbreiteten. Für mich war damals die Filmbuchhandlung Rohr der spannendste Laden in dieser Gasse.
Dank unseres grosszügigen Vermieters und unserer vielfältigen, treuen Kundschaft, teils schon über mehrere Generationen, sind wir jetzt auch schon über 25 Jahre an diesem privilegierten Ort. In dieser Zeit wandelte sich die Oberdorfstrasse ständig und blieb damit lebendig. Geschäfte kamen und gingen, aber immer blieb ein spannender Mix von Läden, sodass sich je länger je mehr Einheimische und Touristen hierhin verirrten.

Viel Herzblut
Das Dorf wäre für mich undenkbar ohne so alteingesessene Juwelen wie das Schuhaus Gräb oder die poetische kleine Bäckerei Vohdin. Auch das Blumengeschäft Binder und der Kinderbuchladen blieben trotz Besitzerwechsel glücklicherweise erhalten. Nicht zu vergessen all die Originale wie Maria Binder, Erwin Merk, Elvira und Urs Vohdin, Ernst Buchter und einige andere, die den Oberdorfgeist prägten und prägen. Was bedeutet, dass hier mit viel Herz gelebt und gearbeitet wird. Dies wirkt sich auch auf Zuzüger und unsere Kundschaft aus. So sind über die Jahre viele Freundschaften mit Anwohnern, Arbeitenden und Kunden entstanden. Das Oberdorf ist wie ein kleines Dorf im Dorf, besser ein Quartier im Dorf, wie der Hirschenplatz oder der Neumarkt.

Die Altstadt von nah
Über die Jahre hinweg habe ich mich immer mehr für die Altstadt interessiert. Und bin oft durch die Gassen gestreift, vor allem frühmorgens. Habe mir die Häuser mit den informativen Plaketten vom Denkmalschutz angeschaut, habe viele idyllische Plätze zum Verweilen entdeckt und habe auch das alte Stadtmodell (Ende 18. Jahrhundert) beim Neumarkt bewundert. An einem der vielen Brunnen zu sitzen, die meist mit Quellwasser gespiesen werden, dem plätschernden Nass zuzuhören, dabei zu lesen und Ruhe im Trubel zu finden, darauf möchte ich nicht mehr verzichten. Die Brunnen werden von der Bevölkerung rege genutzt, sei es für frisches Trinkwasser, zum Kühlen eines Biers oder als Badegelegenheit. Wenn bei grosser Hitze die Wärme in die Gassen kriecht und dann auch in die Läden drückt, gibts nichts Schöneres, als den Kopf in den nahen Klausbrunnen zu tauchen. Bei vielen spannenden Stadtführungen und Foxtrails habe ich noch mehr Geschichten und über die Geschichte der Altstadt erfahren. Eine andere kleine eigene Welt im Dorf konnte ich bei Einladungen zu Treffen und Festen bei befreundeten Anwohnern erleben. Diejenige über der Oberdorfstrasse. Die Altstadt ist überzogen mit wunderschönen Terrassen mit traumhaften Ausblicken rundherum. Auf den Dächern finden sich teils Gärten, ja sogar kleine Parks, wovon man als Besucher dieser Strassen und Gassen nichts mitbekommt. Ich hoffe, dass wir noch lange im Oberdorf bleiben können und vielen Menschen an diesem Ort mit unseren Spielen und Spielzeug Freude machen können. – So habe ich also meine grosse Liebe zum Dorf doch noch gefunden.

Beat Liechti

Unser Gastschreiber
Beat Liechti (1957) ist in Zürich aufgewachsen, wo er eine kaufmännische Lehre absolvierte. Anschliessend arbeitete er zwei Jahre in einer Esoterikbuchhandlung, danach im Sonderschulheim in Ringlikon. Er machte die Ausbildung zum Heimerzieher (heute Sozialpädagoge genannt) und arbeitete neun Jahre im Durchgangsheim Florhof an der Florhofgasse in der Altstadt. In der Folge brachte ihn seine Spielleidenschaft zum «Jackpot» an der Weinbergstrasse. 1990 eröffnete er mit anderen den Spielladen «Rien ne va plus», der nach fünf Jahren vom Seefeld umzog in die Altstadt, an die Oberdorfstrasse 34.
Früher hat er viele Bücher gelesen, heute liest er vorwiegend Spielregeln. Viele Jahre hat er zwei Spielabende pro Woche organisiert.
Der Vater von zwei erwachsenen Kindern lebt in Zürich.

Foto: EM