«Mein Revier ist die Altstadt»

Unsere Gastschreiberin Anna Fraefel lebt seit sie auf der Welt ist in der Altstadt. Da hat sie ihre Freundinnen, da kennt sie sich aus. – Sie erzählt von ihrem Leben.

Wär ich ein Tier, so wäre ich ein Dreifinger-Faultier und würde in einem Regenwald in Südamerika leben. Faultiere sind nicht wirklich faul, aber sie schlafen halt schon extrem viel. Mit ihren Fingern oder Krallen halten sie sich an einem Ast fest. Sie fressen so viele Blätter, dass sie den Baum zum Trinken nicht verlassen müssen. Weil die Blätter genügend Wasser enthalten, brauchen sie gar nicht mehr zu trinken. Dreifingerfaultiere sind zutraulich und gründen gerne Familien.
Zweifingerfaultiere dagegen sind eher auch mal hässig. Jedes Faultier hat seinen Baum, sein Revier, das es nicht so oft verlässt.
Ich bin 11 Jahre alt und mein Revier ist die Altstadt. Hier lebe ich seit ich auf der Welt bin. Meine Eltern sind Julia und Christoph. Ich habe drei Geschwister: Meinen Zwillingsbruder Jakob, der nur ein paar Minuten älter ist als ich, meine Schwester Meret, 8 Jahre, und Aliz, 5 Jahre. Wir haben auch noch eine Katze namens Zippo, die lässt sich draussen nicht so oft blicken. Ihr Lieblingsplatz ist die Faultierdecke, die in meinem Zimmer über dem Bett liegt. Ob er wohl auch gern ein Faultier wäre?

Ein grosser Keller
Ich wohne in einem grossen beige-weissen Haus an der Spiegelgasse 18, direkt beim Leuenplätzli und beim Spielplatz. Zu unserem Haus gehört eine Buchhandlung. Vergessen wir Kinder mal unseren Schlüssel, können wir über die Buchhandlung in unser Haus gelangen. Das ist sehr praktisch!
Gezügelt bin ich erst einmal in meinem Leben, von der einen Seite des Leuenplätzli auf die andere Seite.
Das Besondere an unserem Haus ist, dass es einen sehr grossen Keller hat. Da haben wir wirklich Glück! Wir brauchen ihn, um Filme zu schauen und zu spielen. Man kann den Keller auch mieten, er hat eine Küche und seit neustem auch einen Beamer. Im Keller steht auch mein Schlagzeug. Ich spiele gern Schlagzeug, weil man da mal so richtig mit Power draufhauen kann. Es gibt im Keller auch einen Geheimgang, den wir Kinder lustig finden. Der verbindet unser Haus mit dem Nachbarshaus. Unheimlich, nein unheimlich wird es mir im Keller eigentlich nicht.
Ich gehe in die fünfte Klasse im Schulhaus Hirschengraben. Wir haben altersgemischten Unterricht, das heisst in meiner Klasse werden Viert-, Fünft- und Sechstklässler zusammen unterrichtet. Das find ich super, da kann man auch mal mit Älteren zusammen sein und die helfen einem dann, wenn man Fragen zum Schulstoff hat oder so. Ich mag Sport, Handsgi, Deutsch und NMG – Natur, Mensch, Gesellschaft.

Der Weg einer Jeans
Momentan haben wir da das Thema Globalisierung. In Gruppen machen wir nun Poster zu Südfrüchten, Handys oder Jeans. Die hängen wir dann im Schulzimmer auf, damit die ganze Klasse die unterschiedlichen Poster lesen kann und neue Dinge erfährt. Ich habe mich für die Jeans entschieden. Wir suchen jetzt im Internet nach Informationen darüber: Welchen Weg legt eine Jeans zurück, bevor sie in den Laden kommt? Von Kasachstan in die Türkei, über Taiwan, Polen, China, Italien und Frankreich gelangt sie irgendwann nach Deutschland. An einem Ort wird die Baumwolle angebaut, am anderen gewoben, in Polen wird die Farbe der Jeans hergestellt, in China wird sie zusammengenäht. Die Nieten kommen aus Italien, der Futterstoff aus der Schweiz. In Deutschland wird das Label aufgenäht und das alles ist dann «Made in Germany»! Wir haben auch herausgefunden, dass Näherinnen sehr lange arbeiten pro Tag und eigentlich fast an jedem Tag Überstunden machen müssen und dass sie oftmals krank werden, weil die Arbeit so anstrengend ist. Und wir wissen jetzt, dass eine Jeans durchschnittlich etwas mehr als sechs Jahre getragen wird. Wir haben auch einen Film geschaut über Bangladesch, da sieht man einen Fluss, in dem so viel Abfall schwimmt, dass die Kinder darüberlaufen können… – Wir müssen halt schon auf die Umwelt aufpassen.
Wir haben kein Auto. Wir nehmen fast immer den ÖV. Ausser wir fahren ins Tessin, zum Beispiel. Da kommst du ohne Auto nicht weit. Die Sommerferien verbringen wir eigentlich immer im Tessin, zusammen mit einer guten Freundin von mir. Das liebe ich, weil es dort viele Badestrände und versteckte Buchten gibt!

Spiele im Freien
Was mir an der Schule nicht gefällt? Dass wir eine Maske tragen müssen, den ganzen Tag, während der Schule, den Pausen, im Hort… Das ist mühsam. Und Mathe als Fach finde ich auch nicht so toll. – Meine Freunde treffe ich auf dem Leuenplätzli oder auf dem Pausi. Wir spielen «chli überall» in der Altstadt. Ausser an Orten, an denen es ganz viele Leute hat, Touristen oder so und man fast nicht durchkommt…
Wir spielen besonders gern und oft «Räuber und Poli», «15, 14…» oder «14 gilt». Deswegen kennen wir jede Ecke, jedes Gässlein und alle guten Verstecke in der Altstadt. Die Grenzen sind beim Spiel recht offen. Wir dürfen nicht über die Limmat gehen und nicht über die grosse Strasse beim Schulhaus, ansonsten sind wir frei. Ich finde es super, dass ich mich in der Altstadt so gut auskenne, wir uns so frei bewegen und an vielen Orten spielen können.
Wirklich ändern an der Altstadt möchte ich nichts!

Anna Fraefel*

*Aufgezeichnet von Sabrina Zimmermann

Unsere Gastschreiberin
Anna Fraefel (2009) lebt in der Altstadt. Sie besuchte den Kindergarten Neumarkt und ist in der fünften Klasse im Schulhaus Hirschengraben. Neben der Schule spielt sie Schlagzeug, macht Akrobatik, trifft sich gern mit Freundinnen und tanzt Hip-Hop – wenn die Corona-Situation es erlaubt.
Sie wohnt mit ihren Eltern Julia Blum und Christoph Fraefel und den drei Geschwistern Jakob, Meret und Aliz an der Spiegelgasse.

Foto: EM