Heimatlos zu Hause

Auch früher war es nicht wie früher – lieber Felix, du hast ja so recht. Wir fanden es doch zum Beispiel damals in unserm «Exil» in Turicum ziemlich ungemütlich. Bis Karl der Grosse uns Zürich als Wallfahrtsort aufmischte, was der daniederliegenden Gastronomie wohl bekam. Das älteste urkundlich erwähnte Wirtshaus – damals noch ausserhalb der Stadtmauern – bekam das Tavernenrecht im frühen 13. Jahrhundert, verliehen von der Fraumünster-Äbtissin.
Zürichs älteste Weinstube ist die «Öli» am Rindermarkt, die anno 1410 unter dem Namen «Zum Judenhut» im Grundbuch eingetragen wurde. In der «Öpfelchammer» sollen die Nonnen des Verenaklosters ihr Obst zum Trocknen eingelagert haben. Im 17. Jahrhundert buk dort eine Bäckerei ihre stadtbekannten «Böllewähen». 1801 dann wurde die «Öpfelchammer» zur Weinstube, die heute von einem engagierten Trio – Thomas Trautweiler, Chris Gretener und Benedicht Stuber – geführt wird. Beziehungsweise geführt würde. Wenn Corona nicht wäre.
Es geht ja nicht (nur) darum, dass die Zürcherinnen und Zürcher verhungern würden ohne Wollishofer Chnödel-Suppe und Metzger Kellers 1519-Reformationswurst. Vielen fehlt einfach ihre Wohnstube. Nicht nur an der Langstrasse, wo eine mildtätige Klosterfrau Gutes tut und Liebesgabenpakete verteilt. Auch in der Altstadt fehlt vielen der Ort, an dem sie sich ohne viel Aufhebens hinsetzen und eins ziehen können, oder zwei. Gute Wirtschaften verdienen den Ehrentitel, der im englisch-schottischen Kulturkreis als «home far from home» bekannt ist.
Das in Bezug auf das Gastgewerbe bisher einzig Positive an der Pandemie, das mir einfällt, ist, dass es dieses Jahr wenigstens dieses Fondue-Hüüsli auf dem Platz vor dem Grossmünster nicht gab, welches dafür sorgte, dass sogar Pfarrer Sigrists Predigtworte nach Käse rochen.
Was es immer noch gibt, sind die «Fensterreden» im Januar, die vom «Karl dem Grossen» in ein Internet-Radio verlegt worden sind. Dort konnte man, wenn man mochte, den Komödianten Karpi oder den allgegenwärtigen Gebrauchsphilosophen Ludwig Hasler hören.
Lieber Felix, Regula hat stattdessen Corona-gerecht die Fenster weit aufgerissen, hat in die junge Altstadtnacht hinaus gehorcht auf ein Geräusch, das es sonst vor lauter Türenschletzen und besoffenem Grölen nicht gibt: Stille!

Regula