Und immer wieder die Altstadt

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Unsere Gastschreiberin Annina Hess hat ihre jungen Jahre in der Altstadt verbracht. Ihr Lebensweg führte sie dann anderswo hin. Vor einigen Jahren ist sie zurückgekehrt.

Oh nein, die Zügelwagen standen in Davos vor der Türe! Ich war 14 Jahre alt und wollte genauso wenig wie meine drei Brüder nach Zürich ziehen. Wir waren ziemlich «muff» auf unseren Vater, der als Pfarrer an die Predigerkirche gewählt worden war. Das schöne Pfarrhaus unter der Universität interessierte mich wenig. Die höhere Töchterschule, wie das Gymnasium an der Promenade hiess, kam mir seltsam unfreudig vor.
Und doch! Nach zwei, drei Jahren hatte ich mich eingelebt. Das Pfarrhaus entpuppte sich als gut gelegen und wurde Treffpunkt vor und nach dem Ausgang, ein ständiges Kommen und Gehen. Theater, Oper, Kino, Disco, Feste, alles nah, alles belebend, alles erlaubt. Das Kirchenjahr gehörte selbstverständlich zur Familie, ohne Verpflichtung und Bedrängnis. Dass Freud und Leid das Leben prägen, war erfahrbar durch die Menschen, die ins Pfarrhaus kamen. Die Rebellion gegen das Leiden hat mich von Kind auf begleitet.

Immer wieder anders
Das Jusstudium gab ich auf. Meine Anliegen fand ich darin nicht. Hingegen war ich nach der Ausbildung mit grosser Freude Lehrerin. Ich heiratete, wurde Mutter, wir reisten nach Afrika. Und auch dort, in Tansania, übernahm ich Klassen in der afrikanischen Schule, damit einheimische Lehrerinnen auf die Felder gehen konnten. Die Nahrungsmittel waren knapp, die Armut gross. Mein Mann war als Internist im Spital tätig und bildete zudem «medical assistents» (lokale Ärztinnen und Ärzte) aus. Die zwei Jahre in Tansania haben unser Leben nachhaltig geprägt. Unsere erste Familienzeit fern von der erweiterten Familie und dem Freundeskreis in Afrika zu erleben – unser Sohn war sechs Monate alt bei der Hinreise, unsere ältere Tochter wurde dort geboren – hat uns auf uns selbst zurückgeworfen und einen soliden Boden gelegt.

Wie weiter?
Die Rückkehr in die Schweiz war schwieriger als erwartet. Jetzt hatte es wieder Butter, Brot, Mehl, Zucker, alles in unüberschaubarer Auswahl. Wie lange kann man sich die Freude über ein Stück Brot erhalten – bis sie untergeht im satten Wohlstand? Ich versuchte mich in der Rolle als Schweizer Mutter zurechtzufinden und arbeitete als Hilfswerksvertreterin in Bern, anwesend bei Befragungen von Asylsuchenden. Mit zwei Frauen zusammen initiierten wir die Organisation der «Asylbrücke» in Zug. Vernetzen und verbinden, statt ausgrenzen, war das Ziel dieses Engagements.
Unsere zweite Tochter, unser drittes Kind, kam zur Welt. Eine grosse Freude. Aber zunehmend empfand ich alle politischen Engagements als wenig sinnvolle Tropfen auf heisse Steine. Dies führte mich zum Studium der kunstorientierten, psychologischen Psychotherapie. In den sechs Jahren der Ausbildung bis zum Masterabschluss habe ich begriffen, wie wesentlich – zusätzlich zum Gespräch – Musik, Bilder, Poesie, Literatur, Tanz für die Entwicklung des Menschen, für die Gesellschaft sind.

Sag niemals nie
Mein Mann war inzwischen Chefarzt im Spital Affoltern. Sein Engagement für eine würdige für jeden Menschen angepasste Behandlung und Begleitung fand dort Resonanz. Und, was ich mir lange Jahre nicht hätte vorstellen können, ergab sich: Ich begann im gleichen Spital zu arbeiten. Über Jahre konnten wir zusammen mit anderen die medizinische Grundversorgung «von der Wiege bis zur Bahre» entwickeln. Dies auf der Basis eines ganzheitlichen Menschenbildes mit der interprofessionellen Zusammenarbeit als Kernpunkt. Im Buch «Menschenmedizin: Für eine kluge Heilkunst» haben wir zusammen diese Arbeit beschrieben.
In der 2009 gegründeten Akademie Menschenmedizin (amm) haben wir uns zusätzlich für ein menschengerechtes, bezahlbares Gesundheitswesen eingesetzt. Länger schon hatten wir auf Systemfehler, auf Mengenausweitung, auf falsche Anreize hingewiesen. Die Ereignisse am Unispital zeigen jetzt für alle wahrnehmbar, dass Änderungen unumgänglich sind. Nicht nur dort. Überall.

«amm Café Med»
Unsere Arbeit hat uns immer wieder gezeigt: Viele Patientinnen und Patienten und auch Angehörige sind zu Recht verunsichert, andere wollen bewusst wählen, wie sie mit ihrem Kranksein und Gesundsein umgehen wollen. Im «amm Café Med» im «Chez Marion» am Zähringerplatz bieten deshalb erfahrene Fachpersonen – Ärztinnen, Psychologen, Sozialarbeiterinnen – zweimal im Monat Unterstützung in der medizinischen Entscheidungsfindung an, kostenlos.
Was wir im 2017 in der Altstadt sozusagen als Prototyp begonnen haben, findet inzwischen auch in Luzern, Winterthur, Bern und Basel statt.

Zurück in der Altstadt
Immer wieder hatten wir uns die Frage gestellt, ob wir irgendwann wieder zurück in die Altstadt ziehen wollen. 2017 war es so weit, wir wollten das Experiment starten. Schneller als erwartet konnten wir zwar nicht wie zuerst gedacht rechts, sondern links der Limmat eine Wohnung mieten. Und wir genossen es, wieder wie einst alles nah zu haben und vieles war noch erstaunlich vertraut.
Wir traten in die Quartiervereine ein und Pfarrer Ueli Greminger motivierte mich zur Teilnahme in einer Spurgruppe. Dies endete nach einem Jahr mit dem Präsidium des Vereins St. Peter.
Die Vernetzung mit allen anderen Vereinen der Altstadt links der Limmat, des Kirchenkreises 1, der Theologischen Fakultät begeistert, das Anliegen Tradition und Innovation zu verbinden ist herausfordernd. Ganz besonders interessiert mich die Beziehung von Sakralem und Säkularem. Es freut mich deshalb sehr, dass ich das Projekt «Werktags in der Kirche St. Peter» initiieren konnte.
Schneller als erwartet waren wir wieder zu Hause in der Altstadt. Wir genossen das fast dörfliche Sich-Kennen einerseits und auch das Sich-fremdsein-Dürfen andererseits. Und dann kam aus dem Nichts die schwere Erkrankung meines Manns und der schnelle Tod im September 2019. Eine traurige, unfassbare Herausforderung des Schicksals. Von der Altstadt aus hatten wir vor 45 Jahren unseren gemeinsamen Lebensweg begonnen. Zurückgekehrt mussten wir uns für immer verabschieden.

Annina Hess

Unsere Gastschreiberin
Annina Hess-Cabalzar (1951) ist mit 14 Jahren von Davos in die Zürcher Altstadt gekommen. Sie besuchte die Töchterschule und absolvierte das Oberseminar, arbeitete vier Jahre als Lehrerin. Ab 1981 arbeitete sie mit ihrem Mann, dem Arzt Christian Hess, zwei Jahre in Tansania für ein Entwicklungsprojekt. Anschliessend war sie fünf Jahre im Asylwesen tätig, sodann folgte die sechsjährige Ausbildung zur Psychotherapeutin. Von 1994 bis 2012 hat sie im Spital Affoltern gearbeitet: Leitung der Psychotherapie und Mitglied der Spitalleitung. 2009 Gründung der Akademie Menschenmedizin und das Café Med im «Chez Marion» lanciert. Sie ist Präsidentin des Vereins St. Peter.
Sie hat drei Kinder und drei Enkel, hat im Säuliamt gewohnt und lebt seit 2017 in der Altstadt.    Foto: EM