Eine wunderbare Stadtoase

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Wer wie Ihre Kulinarierin schon ein halbes Leben in der Altstadt lebt, und das ist eine lange Zeit, kann sich gar nicht genug wundern und freuen. Die Café-Bar «Chiffon» neben dem Palais Rechberg mit seinem öffentlich zugänglichen Barockgarten macht aus der ehemaligen privaten Garage ein städtebauliches Juwel.

Wir  schafften es glücklicherweise an einem der letzten schönen Herbstabende in die nigelnagelneue idyllische Gartenwirtschaft am Hirschengraben 36, im Beisein der zwei Ladies, die der Bildhauer Otto Kappeler (1884-1949) schuf. Sassen beglückt unter den gewaltigen Amberbäumen (Liquidambar styraciflua, danke, liebe Grün Stadt Zürich, für die prompte Auskunft).
Unter diesen Amberbäumen am Hirschengraben 36 süffelten wir unsern Apéro, ein Glas sizilianischen Grillo und einem Campari Orange, haben das neueste Gastro-Angebot im Kreis 1 gemustert und uns über uns selbst gewundert. Da wohnt man also seit Jahren in der Nachbarschaft und hat dieses bescheidene Haus, das früher als Remise und später als private Garage diente, einfach übersehen. Eigentlich auch übersehen müssen.
Die beiden jungen Gastronomen Christoph Föry, Morris Welti und ihr Kompagnon Robin Zingg, die vor wenigen Wochen das Bar-Café «Chiffon» eröffnet haben, waren aufmerksamer. Sie sind mit dem Grundbesitzer, dem Rechtsanwalt Markus Hugelshofer, übereingekommen, diese hoch attraktive Lage zu erschliessen. Für Hugelshofer ist es ein Heimspiel, er ist auf dem grosselterlichen Areal zusammen mit seinen zwei Brüdern quasi  aufgewachsen. Historische Häuser rufen automatisch die Denkmalpflege auf den Plan. Meistens dauert es dann etwas länger. Auch in diesem Fall. Es gab in der jüngeren Vergangenheit mehrere Versuche und verschiedene Interessenten für eine neue Nutzung. Nun hat es endlich geklappt.

Der offene Dachstock
Hereinspaziert. Man kann auch mit Maske gar nicht anders als nach oben zu schauen. Der kunstvoll hochgezimmerte Dachstuhl war lange abgeschottet gewesen. Jetzt präsentiert er sich als handwerkliches Kunstwerk. Die Remise hatte keine Fenster und die Denkmalpflege  gottlob ein Einsehen. Die schönen alten Böden sind erhalten geblieben, das Natursteinmauerwerk ist sichtbar, man fühlt sich wohl in einem historischen Gemäuer, das perfekt auch in die Gegenwart passt. Es gehört zum Florhof-Areal, wo in verschiedenen Gebäuden ab dem 17. Jahrhundert Flor und Musselin produziert wurde. Der Florhof war noch kein luxuriöses Boutique-Hotel, sondern eine Fabrik. 1763 für die Patrizierfamilie des Hans-Felix Oeri-Lavater errichtet, ist er der letzte noch erhaltene «Seidenhof» der Stadt Zürich.

Espresso, Bruschette
Morris Welti und Christoph Föry, Studienkollegen, führen seit 2016 mit Erfolg das Café «Plüsch» in Wiedikon. Und nun also der Sprung an den Neumarkt. Das Dreier-Tram hält direkt vor ihrem neuen Lokal. Gleich nebenan ist der Kunsthaus-Neubau und hinten an der Florhofgasse das Konservatorium. Was für eine musische Gegend! Es gibt ausgezeichneten Kaffee (auch zum Mitnehmen, aber warum sich nicht ein paar Minuten Ruhe gönnen?). Zur Mittagszeit kann man auch Pasta haben (Fr. 19.50) oder Suppe (Fr. 14.50) – «unser Service sagt dir gerne, was drin ist». Zum Apéro gibts eine kleine Menu-Karte mit dem Steak-Sandwich (Fr. 28.50) – ich bin allerdings, sorry, kein Chimichurri-Fan – und tollen Bruschette (Fr. 18.50), auch vegan erhältlich.
Der Aussengarten im Spickel wird ab nächstem Jahr ergänzt durch einen zauberhaften Innenhof, «einer Mischung aus Amsterdam, Paris und Barcelona», wie unser weltkundiger Freund Alain schon heute geniesserisch schwärmt. Er mag solche Plätze, weil er da in frohgemuter Gesellschaft ungehindert seine Gauloises verbrennen darf und trotzdem etwas zu trinken bekommt.
Wer weiss: Vielleicht wird eine Kette draus: nach «Plüsch» und «Chiffon» mit «Brokat» oder «Organza» oder «Chintz», «Taft», «Samt», «Damast». Oder «Schmattes», in der koscheren Variante. Schliesslich ist Zürich auch eine Textilstadt!

Esther Scheidegger

«Chiffon», Café & Bar, Hirschengraben 36, www.cafebar-chiffon.ch, Montag bis Donnerstag 8 bis 24, Freitag 8 bis 1, Samstag 9 bis 1 Uhr. (Aktuell wegen Corona bis 23 Uhr.)