Zürich war ihr nicht gewachsen

Sie war eine auffällig unauffällige Person. Kurzes Haar, Hosen als Lieblingskleid, das Haar raspelkurz. Geht man so, wenn man der Welt und den Erwartungen gefallen will? So geht man wohl besser nicht.
Gudrun Orsky, 1941 in Posen geborene, in Wiesbaden ausgebildete Schauspielerin und Regisseurin war eine unbequeme Persönlichkeit. Und unbequem war sie, weil sie das Bild von Theater aufbrechen wollte. Orsky war in den Jahren 1970 bis 1977 die Kraft hinter und neben Harry Buckwitz am Schauspielhaus Zürich; von 1982 bis 1984 leitete sie den Keller des Schauspielhauses. 1989 schliesslich trat sie als erste Frau die Direktion des damaligen «Theater am Neumarkt» an.
In einer Zeit des Regietheaters förderte und stärkte sie die Stimmen von Autorinnen und Autoren. Ihre Spielpläne waren mutig, im Zentrum stand die Machtverteilung zwischen den Geschlechtern und zwischen Besitzenden und Besitzlosen.
Bald verehrte man sie am Neumarkt aufgrund ihrer Kompromisslosigkeit. Oder aber man hielt sie für stur. Am Ende ihrer Intendanz 1993 überwogen die kritischen Stimmen. Geringe Besucherzahlen zu Beginn ihrer Direktion hatten dazu geführt, dass Forderungen nach der Schliessung des Theaters gestellt wurden. Gudrun Orsky war eine Missverstandene, der das politische Zürich nicht gewachsen war.
Im Rückblick markierte ihre Intendanz den Beginn eines neuen Theaterverständnisses, darstellende Kunst begann sich für die Stadt zu interessieren. So war es Programm, dass sich Orsky mit dem «Aktionsbündnis für bedrohte Flüchtlinge» solidarisierte, das sich in der Woche ihrer ersten Pressekonferenz im Haus verbarrikadiert hatte. Und es war konsequent, dass sie für die Räumung des Platzspitzes laut war. Orsky betrieb mit ihrem Theater gelebte Zeitgenossenschaft.
Nach ihrer schwierigen Neumarkt-Intendanz zog sie sich aus der Zürcher Öffentlichkeit zusehends zurück. Erst jetzt wurde aus ihrem privaten Umfeld bekannt, dass sie im August verstorben ist. Gudrun Orsky liegt in einem anonymen Grab auf dem Friedhof Enzenbühl.   

Daniele Muscionico