Gallisches Dorf von Zürich

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Unsere Gastschreiberin Mia Manaila ist in der Altstadt aufgewachsen und blickt zurück auf ihre Kindheit – und macht sich Gedanken zur Zukunft.

Vom Leueplätzli die Spiegelgasse runter und rechts ins Rehgässchen abgebogen – schon ist man sicher. Wenn auch nur für kurze Zeit. Alternativ könnte man natürlich auch via Rindermarkt und Schweizerhofgasse beim Rosenhof Unterschlupf suchen. Einen Unterschied macht es wohl nicht wirklich, lange wird man dort nicht verweilen. Viel zu unruhig ist man durch das Wissen, dass jederzeit einer von ihnen, den «Bullen», aufkreuzen und einen gefangen nehmen könnte. Man bleibt also lieber in steter Bewegung und zieht ziellos durch die Gassen. Wenn man dann doch einem Mitglied des gegnerischen Teams über den Weg läuft, bleibt einem nur die Flucht. In Rekordtempo rennt man dann durch die Strassen, die Bullen einem dicht auf den Fersen. Die Häuser ziehen an einem vorbei, man erkämpft sich eine Bahn durch die ahnungslosen Passanten, ein Rank nach links wird von einem Rank nach rechts gefolgt. Die Verfolgungsjagd nimmt erst ein Ende, wenn der Feind abgehängt oder aber man selbst festgesetzt ist.

Rastosigkeit und Ruhlepol
So habe ich die Altstadt meiner Kindheit in Erinnerung. Räuber und Bulle spielen mit meinen Freundinnen und Freunden, alternativ «Fangis», «Versteckis», oder «Stöckliverbrenne». An mir vorüberziehende Häuser, Rastlosigkeit und Abkürzungen.
Das erlebe ich alles noch immer, nur die geografische Lage, oder um es in Begriffen von Räuber und Bulle auszudrücken, das «Revier» hat sich etwas verschoben und ausgedehnt. Die vorüberziehenden Häuser sehe ich nun vom Tram, Bus oder Velo aus. Rastlosigkeit verspürt man mit zunehmendem Alter wohl immer mehr, hastet so von einem Ort zum nächsten. Und den kürzesten Weg kennen wir – Google Maps sei Dank – mittlerweile alle.
Das erfahre ich in ganz Zürich. Ausser in der Altstadt. Paradoxerweise ist genau dieses Quartier, an dem ich früher in ständiger Bewegung war, über die Jahre zu meinem Ruhepol geworden. Nur einen Katzensprung vom unermüdlichen Betrieb des Centrals und Bellevues entfernt findet man einen Ort, an dem man mitten in der Stadt seinen eigenen «Schnuf» hört. Google Maps brauche ich hier nicht zu benutzen, viel zu vertraut ist mir jede Ecke und Kante dieses bezaubernden Quartiers. So auch die Kafis, in denen ich mich mit Freundinnen und Freunden – oftmals noch aus der Schulzeit im Hirschengraben – treffe und in denen ich für einmal richtig entspannen kann.

Dorfcharakter
Alles liegt in Gehdistanz, ein Auto oder Tram braucht hier niemand. Die Altstadt ist ein Dorf mitten in einer Grossstadt. – Darauf beruht auch der Stolz der hier Niedergelassenen. Die Altstadt, das ist ein Quartier, wie man es sonst nicht mehr findet. Die Leute kennen sich noch, sagen Grüezi oder Hallo, Ade oder Tschüss.
Das Leben hier ist schön und die Altstadt selbst sowieso. Ich durfte auf den Strassen der Altstadt eine grossartige Kindheit erleben und erinnere mich heute gerne und oft daran zurück.
Wie könnte ich es auch nicht tun? Es sind schliesslich noch exakt dieselben Gassen und Strassen, wie sie es dazumal waren, ja selbst die Pflaster sind noch dieselben. Optisch hat sich in den letzten zehn Jahren nicht viel verändert. Bei einem Spaziergang durchs Dörfli meint man sogar zu erahnen, wie das Leben in Zürich früher ausgesehen hat – früher, also vor den schnellen Autos und hohen Häusern. Es scheint, als wollten die Gebäude von vergangenen Zeiten erzählen. Auch dies ist Teil des Stolzes: Die Altstadt bleibt Altstadt, bleibt altvertraut, aber eben auch alt.
Ich lebe praktisch seit meiner Geburt im Kreis 1, arbeite heute aber am Helvetiaplatz in einer Pizzeria – mitten im «Chreis Cheib» also. Auf den ersten Blick könnten diese zwei Gebiete gegensätzlicher nicht sein. Der Kreis 4, den man unweigerlich mit Clubs und Ausgang verbindet und der Kreis 1, den man eher mit Familienleben und einer gewissen Harmonie assoziiert – wehe dem, der es wagt, den Frieden nach Lärmstunde zu stören! Die Gegend um die Langstrasse herum so wunderbar urban, die alte Stadt am Fluss so wunderbar heimelig. Ursprünglich wollte ich eigentlich einen Artikel über die Unterschiede der beiden Quartiere schreiben. Bei genauerer Betrachtung jedoch wird schnell klar, dass diese Unterschiede oftmals bloss Stereotypen sind.
Haben nicht auch wir hier in der Altstadt mehrere gut besuchte Bars, 24-Stunden-Lädeli und sogar den einen oder anderen Club? Wird der Kreis 4 nicht auch von Familien belebt, deren Kinder dort die Schule besuchen und in der Bäckeranlage spielen – womöglich sogar Räuber und Bulle?

Veränderungen
Klar, es gibt Unterschiede und das ist gut so! Wir müssen aber auch damit beginnen, die vielen Gemeinsamkeiten zu erkennen. Ansonsten wird es schnell zu «wir» und «die anderen». Wenn sich um uns herum nämlich alles verändert, wollen wir hier gleich bleiben, durchs Gleichbleiben anders bleiben. Das «Dörfli» als gallisches Dorf von Zürich; wir stellen uns quer und betonen dies gerne. Es wirkt auf mich, als hätten wir, die wir mitten im Zentrum der grössten Stadt der Schweiz wohnen, Angst vor Veränderung. Der Begriff des Veränderns wird schnell mit dem des Verlierens verbunden.
Dabei wird aber ausser Acht gelassen, dass man durch Veränderung auch etwas gewinnen kann. Veränderung bedeutet Entwicklung.
Ich will natürlich nicht, dass wir die Altstadt komplett umkrempeln, viel zu schade wäre das für mein trotz allem einzig- und selbstverständlich grossartiges Quartier. Möglicherweise ist es aber an der Zeit, mal an einem der vielen Pflaster zu rütteln, es zu drehen oder sogar auszutauschen. Mag sein, dass unsere Gassen dann ein wenig anders aussehen, man nicht automatisch an die guten alten Zeiten denkt. Aber vielleicht dafür an eine gute Zukunft?

Mia Manaila

Unsere Gastschreiberin
Mia Manaila (geb. 2000) ist in der Altstadt aufgewachsen. Nach der Primarschule im Schulhaus Hirschengraben wechselte sie für zwei Jahre ans Gymnasium Hohe Promenade und schloss im Sommer 2019 an der Kantonsschule Hottingen das Wirtschafts- und Rechtsgymnasium mit der Matura ab. Ein Austauschsemester verbrachte sie in Gold Cost, Australien. Die Zeit nach der Matura nutzte sie für eine dreimonatige Asienreise und zum Geldverdienen in einer Pizzeria. Im Herbst 2020 beginnt sie an der Uni Zürich Politikwissenschaften und Populäre Kulturen zu studieren.
Sie wohnt mit ihren Eltern Marc Loeliger und Ilinca Manaila sowie ihrem jüngeren Bruder Paul im Kreis 1, Auf der Mauer.

Foto: EM