Mit dem Laptop in die Welt

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Unsere Gastschreiberin Rita Baechler lebt in der Altstadt. Sie hat schon viel erlebt. Nun, nicht mehr ganz jung, möchte sie dem noch einiges hinzufügen.

An meinem 75. Geburtstag am 1. Oktober 2020 werde ich als digitale Nomadin und Coach um die Welt ziehen. Mein langes, intensives Leben hat mir eine grosse Fülle an Ereignissen geschenkt und verdient nicht das Privatisieren auf dem Altenteil. Jetzt brauche ich einen neuen Lebensabschnitt, etwas was mich berauscht, bewegt und zum Staunen bringt. Also ziehe ich mit Laptop und Handy in die Welt und werde meine Kunden in der Schweiz und sonst auf der Welt online coachen. Corona sei Dank weiss inzwischen jeder, dass dies möglich ist. Nun zur Geschichte und wie es dazu kam.

Abenteuer Zürich und Moskau
Alles änderte sich, als ich mit 47 den Mut aufbrachte mich selbständig zu machen. Ich wollte Headhunter sein, jedoch in Luzern, dort, wo meine Familie wohnt. Darüber war mein Arbeitgeber nicht erfreut und drohte aufgrund einer Konkurrenzklausel mit einer dicken Konventionalstrafe. Doch durch einen unvorstellbaren Zufall (ich nenne es göttliche Vorsehung) verschlug es mich von heute auf morgen ans Limmatquai, wo ich flugs meine erste Firma gründete. Ich war begeistert und startete durch. Kaum ein Auftraggeber widerstand folgendem Versprechen: «Wenn Kader, die ich an Sie vermittle, Ihre Firma frühzeitig verlassen, sind diese krank oder tot.» Damit war mein Erfolg mit dem Ehrenwort verbunden.
In Zürich wurde ich glücklich. Nirgends habe ich mehr persönliche Freiheit erlebt, mehr Toleranz und Grosszügigkeit. Als ich als erster selbständiger Headhunter der Schweiz 1992 meine Firma gründete, ging ein Traum in Erfüllung. Früh im Leben konnte ich Menschen lesen wie ein offenes Buch. Instinktiv durchschaute ich deren Absichten, Beweggründe, Träume, aber auch die Schäume, sah glasklar, wo ihre Stärken lagen. Und die Schwächen. Viel mehr Menschenkenntnis habe ich in Moskau erworben, wo ich als Mitarbeiterin des Militärattachés der Schweizerischen Botschaft, unter anderem verantwortlich für das gesellschaftliche Protokoll, das diplomatische Parkett betrat. Das war 1966/67, mitten im Kalten Krieg. Da war ich gerade mal zwanzig.

Berufliche Entwicklung
Ich heiratete, sammelte Erfahrungen als Mitunternehmerin in unserer grafischen Familien-KMU, wurde Mutter. Nach meiner zweiten Heirat, mit Leo Baechler, war ich bis zur Firmenpleite 1984 Unternehmersgattin mit Grosshaushalt und ausserdem die in Luzern akkreditierte Honorarkonsulin von Peru. Seitdem ich 1992 die Geschicke meiner Familie selbst in die Hand genommen hatte, wirke ich als Firmengründerin, Unternehmerin, Headhunter, Coach, WG-Partnerin und Schmalspur-Abenteurerin. Das Wort unmöglich hat für mich nie existiert.
Die Altstadt, das Büro mit Blick auf den Lindenhof, alles habe ich dem Glück, dem Zufall und vielen grossartigen Zürchern zu verdanken. Der Einstieg in die Selbständigkeit, aber auch der Sommer 1992, war sehr heiss. Trotz Rezession florierte meine Firma rasch; nach wenigen Jahren waren wir auf zwei Städte verteilt ein Team von zehn Frauen und einem Sekretär.
2007 verstarb nach langer Krankheit mein Mann und ich lernte allein zu leben. Vorsorglich hatte ich eine Coaching-Ausbildung absolviert und dann meine zweite Firma, Baechler-Barth Unternehmensberatung, gegründet. Das ruhige Coaching schien im Hinblick auf mein damals gesetztes Alter die bessere Perspektive zu sein als das temporeiche Headhunting, welches mich früher oder später aus dem System hinauskatapultiert hätte.
Seit fünfzehn Jahren coache ich Führungskräfte, High-Potentials, aber auch Privatpersonen bei Karriere-, Führungs- und Lebensfragen. Als bestätigte Menschenkennerin und passionierter Coach verfüge ich zum Glück über viel Lebens- und Berufserfahrung.

Früchte geniessen
Jetzt freue ich mich unbändig darauf, bald einen neuen, völlig ungewissen Lebensabschnitt ganz für mich alleine anzugehen. Mein bisheriges Leben war ein lehrreiches, oft holperiges Abenteuer, dessen Früchte ich nun geniesse.
Wenn ich ab dem 1. Oktober die Welt bereise, tue ich das als digitale Nomadin, mit dem Laptop im Gepäck. Wenn Corona es zulässt, wird die erste Destination Nairobi sein, eine Stadt, die ich kenne, in der ich seit mehreren Jahren Führungskräfte coache. Danach gehts nach Lanzarote, weils dort im Winter warm ist, alsdann in die Provence, wo ich auf den Spuren der Impressionisten wandeln werde.
Den Sommer 2021 verbringe ich in den Schweizer Bergen und besuche meine Familie, Nachbarn, Freunde, Kunden. Sollte bis dahin die Luft rein und Corona-frei sein, geht es vielleicht weiter nach China oder Vietnam. Mocca, der unerschrockene Chihuahua, wird mich begleiten.

Und die Wohnung?
Ich werde hin und wieder gefragt, ob ich tatsächlich Haus und Hof aufgeben werde. Und was mit meinem Interieur und den Wertsachen geschehen solle. Den Schmuck und etliche Kunstgegenstände habe ich vor Ausbruch von Corona meinen erwachsenen Enkeln geschenkt. Den Rest erhalten sie später. Den Mietvertrag und das komplette Mobiliar übernimmt als Leihgabe Philip, seit zweieinhalb Jahren mein famoser Mitbewohner aus Berlin. Privates räume ich weg, das meiste entsorge ich.  In Nairobi bereits gebucht habe ich ein Zimmer in einer Kolonialstil-Villa direkt am Nationalpark, wo abends der Wildwechsel und ein schöner Sonnenuntergang stattfinden. Nomaden-Unterkünfte buche ich auf Airbnb.
Wenn alles gut geht, und wenn das Heimweh mich nicht plagt, bleibe ich zwei, drei Jahre Nomadin. Später werde ich ins Dorf zurückkehren und kleiner wohnen. Besitz brauche ich keinen mehr. Möglich, dass ich dann endlich zu schreiben beginne. Wenn es so weit ist, werde ich mich, wie bei meiner Ankunft in Zürich vor 28 Jahren, abermals begeistert dem Tages- und Nacht-Rhythmus der Altstadt hingeben. Also, liebe Nachbarn: ich freue mich auf ein Wiedersehen!

Rita Baechler


Unsere Gastschreiberin
Rita Baechler (1945) ist zweisprachig im Tessin aufgewachsen. Französisch und Englisch lernte sie als Au Pair in Lausanne und London. Handelsschule, danach Mitarbeiterin der Schweizerischen Botschaft in Moskau. Familiengründung und Mitarbeit im ehelichen Betrieb. Elf Jahre Honorarkonsulin von Peru. Mit 38 Einstieg in die Personalberatung. Rita Baechler studierte Psychologie und Führung am IAP, später Coaching. 1993 Firmengründung am Limmatquai als erste selbständige Headhunterin der Schweiz. 2005 Neugründung von «Coaching & Assessments». Seit 1992 lebt und arbeitet Rita Baechler in der Altstadt. Ab dem 1. Oktober bereist sie als digitale Nomadin die Welt.

Foto: EM