Ans andere Ufer

Felix hat natürlich recht, wie immer oder doch meistens. Wir werden tatsächlich älter, Tag für Tag, und nur lustig ist das nicht. Obwohl mein Bruder, wie ich drangsaliert vom römischen Statthalter Decius, abgesandt vom gottlosen Kaiser Maximilian, schon im 4. Jahrhundert in Zürich den Kopf verlor. Darum nennt man uns Cephalopheren, Kopfträger. Man hat uns übrigens nach der Reformation als Stadtheilige nicht abgesetzt, nur eine Zeitlang vergessen.
Der weltläufige, kosmopolitische Zürcher Journalist, Publizist und Schriftsteller Hugo Loetscher (1929-2009) kam, von ihm selber schön doppeldeutig formuliert, «vom anderen Ufer» – aus Aussersihl. (Höchste Zeit, sein kurz nach seinem Tod erschienenes Abschiedswerk «War meine Zeit meine Zeit» wieder einmal zu lesen.) Er wuchs an der Hardstrasse 87 auf, war ein katholischer Arbeitersohn aus dem Entlebuch im damals noch stockreformierten Zürich. Das Gymi und die Uni befanden sich auf der andern Seite der Sihl. Später wohnte er jahrelang an der eleganten Storchengasse, in einem wunderbaren Refugium, das nur über eine steile Treppe erreichbar war. Am anderen Ufer eben. Mit der gleichen Metapher bezeichnete er zugleich selbstironisch seine persönliche Position im Leben.
Im damals noch nicht hippen Kreis 4 wohnten früher Leute, die sich den Zürichberg nicht leisten konnten. Es waren gschaffige Handwerker und Unternehmer, aber auch Unterprivilegierte, Arme und viele Emigranten.  Mittlerweile hat Aussersihl aufgerüstet. Die Europaallee will sich als neues In-Quartier zelebrieren. Viel Zürichberg-Volk ist inzwischen ans andere Ufer umgezogen, und mit ihm anspruchsvolle Projekte! Das Kulturzentrum Kosmos beispielsweise. Oder die Residenz Gustav. Aber die ist ein Trauerspiel. Versprochen worden war ein Paradies. Wohnen mit Service und Pflege rund um die Uhr. Angesprochen sollten sich ältere Menschen fühlen, die sichs leisten können. Nun ist Schluss damit. Das Restaurant im Parterre, das der sympathische Spitzenkoch Antonio Colaianni führt, schliesst sogar schon im Dezember.
In Aussersihl hat mittlerweile die gleiche unzürcherische Mentalität – Hochnäsigkeit, verbunden mit Realitätsverlust – Einzug gehalten, die man früher «dem Zürichberg» vorgehalten hat. Angetrieben von der masslosen Gier der SBB nach dem höchstmöglichen Preis für das in der Eisenbahnbauzeit billig enteignete Land, hat der private Promotor und Risikoträger offenkundig die Lage falsch eingeschätzt.
Wer allein fürs Wohnen pro Monat 15 000 Franken ausgeben kann, hat in diesem schönen Land noch andere Optionen als eine Dreizimmerwohnung mitten in Lärm und Betrieb. Die Realität hat hier ein paar Illusionen um einen Kopf kürzer gemacht. Mein Mitleid hält sich in Grenzen.   

Regula