Der Preis der Attraktivität

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Viele Jahre hat unser Gastschreiber Christian Jott Jenny sein Büro in der Altstadt gehabt. Heute
ist er Gemeindepräsident von St. Moritz und vermisst als Heimweh-Zürcher die Zürcher Altstadt.

Es ist wohl kein grosses Geheimnis, dass mir Zürich, und insbesondere die wundervolle Altstadt,
sehr am Herzen liegt. Ich bin ein Stadtkind. Aus dem gerne vergessenen Randquartier Witikon zwar,
aber ein Stadtkind nichtsdestotrotz. Doch die Sogwirkung der Innenstadt machte auch vor mir nicht
halt. Zugegebenermassen galt mein Interesse allerdings weniger den coolen Clubs und den grossen
Geschäften. Vielmehr waren es die Zürcher Sängerknaben, bei welchen ich in der Kindheit mittun
durfte, die «Drei Knaben» in Mozarts Zauberflöte am Opernhaus Zürich und dann natürlich die
bekannten alten Lieder über das Bellevue, über das Niederdorf, welche mich fesselten. Schon bald
organsierte ich, aus einem kleinen Büro am Rindermarkt, Liederabende, Musiktheater und kleine
Festivals und trat mit diesen Geschichten auf diversen sich anbietenden Bühnen auf. Im Zentrum
standen fast immer die besagten alten, schönen Lieder und Chansons. Die von Margrit Rainer, von
Paul Burkhard, aus der Niederdorfoper oder vom Cabaret Rotstift. «Zürich en masse – immer en
Gpass» würden die alten Texter vielleicht schreiben.

Neuer Lebensmittelpunkt
Es kam also einem mittleren Wunder gleich, dass ich meinen Lebensmittelpunkt nach St. Moritz
verschob. Wie vieles in meinem Leben passierte das einfach. Es gab keinen langfristigen Plan. Das
«Festival da Jazz St. Moritz» entstand organisch aus einer kleinen Konzertreihe – programmiert
und konzipiert in der Zürcher Altstadt – i de Mitti vo de City. «Könnte man nicht…? Wie wäre es
wenn…?» – Und plötzlich organisierte und produzierte ich Jahr für Jahr ein fünfwöchiges Festival
mit über 60 Konzerten. St. Moritz und das besagte Festival beschäftigten mich plötzlich sechs bis
acht Monate im Jahr. Erneut kam ich an den Punkt «Könnte man nicht…? Wie wäre es wenn…?».
Und nun – fragen Sie mich nicht, wie genau es dazu kam – bin ich plötzlich Gemeindepräsident der
schönen Oberengadiner Gemeinde. Angekommen wieder ohne langfristigen Plan, auch wenn ich solche
Pläne nun, das Amt zwingt mich dazu, immer öfters mitgestalten oder zumindest absegnen muss und
darf.
Warum ich Ihnen das, als recht ausführliche Präambel, erzähle? Nun, es liegt in der Natur der
Sache, dass man beim Fortgehen den Blick auf das ursprüngliche Zuhause schärft. Man vergleicht
die alte und die neue Heimat unweigerlich. Zürich und St. Moritz.
Hier die kleine Weltstadt, mit einem latenten Minderwertigkeitskomplex zwar, die aber dennoch
viel zu bieten hat. Dort der «Nobelkurort», eher leicht grössenwahnsinnig, welcher bei jeder
Gelegenheit gerne darauf hinweist, dass dort der Wintertourismus erfunden wurde und man zweimal
Olympische Spiele abhalten durfte. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Dinge zwischen 150 und 80
Jahre in der Vergangenheit liegen.
St. Moritz kämpft mit der Abhängigkeit von der kurzen Winter- und noch kürzeren Sommersaison.
Zürich kämpft mit E-Trottis, Fussballmobs und den stetig steigenenden Ansprüchen der 24-Stunden-
Gesellschaft.

Viele Parallelen
Aber es gibt, so unterschiedich die beiden Orte auch scheinen mögen, viele Parallelen zwischen
Zürich und St. Moritz. Die Fussgängerzonen etwa. Egal ob auf 400 oder 1800 Meter über Meer:
Lokale Geschäfte kämpfen zusehends um ihre Existenz, während die immergleichen internationalen
Marken, die es sich leisten können, diese Zonen mehr und mehr gleichschalten. – Es gibt an beiden
Orten Projekte, welche die Bevölkerung spalten, obwohl schon seit einer gefühlten Ewigkeit
darüber verhandelt wird. In Zürich ist es das Fussballstadion, in St. Moritz die brach liegende,
aber wunderschöne Reithalle etwa oder die ständig geforderte Talabfahrt ins Dorf.

Anziehungspunkte
Doch die wichtigste Parallele ist eine andere und zum Glück eine positive: St. Moritz wie auch
Zürich sind Anziehungspunkte. Menschen kommen zusammen, sie kommen her, um etwas zu erleben. In
Zürich sind die wahren Stadtzürcher eher rar vorhanden. Die Menschen kommen aus umliegenden
Kantonen, wegen der Arbeit, aber auch wegen Zürich. Und das ist gut so. Selbst die
Stadtpräsidentinnen und Stadtpräsidenten der letzten Jahre sind Zugewanderte (wer hat schon eine
Stadtpräsidentin aus dem Aargau!).
St. Moritz ist diesbezüglich ähnlich eingerichtet. Touristen kommen von überall und für sie
arbeiten Menschen von überall. Zugegebenermassen müssen die Einheimischen, in Zürich wie in St.
Moritz, kämpfen, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Und die Politik ist im höchsten Masse
gefordert, um diesem Problem in einem gewissen Masse entgegenzuwirken. Aber wenn eine Gemeinde
attraktiv sein will, kann sie sich auch nur bedingt darüber beklagen, wenn Gucci und Zara
anklopfen, wenn Vermieter das Geschäft riechen, wenn es enger wird, wenn schlicht und einfach
mehr Geld in die Gemeinde kommt.

Schmelztiegel
Einfach abstellen kann man diese Entwicklung nicht. Aber man kann einen geschärften Blick
entwickeln, den Diskurs fördern, den Austausch neuer Ideen vorantreiben und das Lokale dort
fördern, wo es Sinn macht. Und man muss sich bewusst sein, dass diese Entwicklungen und
Veränderungen nicht neu sind. Schon im wunderschönen Lied «Nostalgie nach Zürcher Art» –
wohlbemerkt vor mehreren Jahrzehnten verfasst – wurde das bemängelt: «Lueg die Beiz, das Kino
det, verschwunde, wie vom Wind verweht.» Es klingt, als wäre das 2019 geschrieben worden.
Ich persönlich mag, dass Zürich wie auch St. Moritz eine Art Schmelztiegel sind. Ich begrüsse
lieber neue Menschen und verschliesse mich nicht vor der Veränderung, welche diese «Immigration»
mit sich bringt, als dass wir krampfhaft an allem festhalten und schnatternd allenthalben heilige
Kühe deklarieren, egal ob diese Kühe ihren Dienst schon lange hinter sich haben.
Man mag daran zweifeln, dass solch vorwärtsgerichtete Gedanken glaubhaft klingen von einem, der
stets nur alte Lieder singt.
Aber ich verspreche: Bei der nächsten Ausgabe des Trittligass-Theaters, welches für den
Spätsommer 2020 geplant ist, werden auch neue Texte zu hören sein. Denn so sehr ich auch bereit
wäre, mich auf Loorbeeren auszuruhen, welche von Margrit Rainer und Ruedi Walter gepflanzt wurden
– man darf es zumindest doch auch mal versuchen, ein paar neue Kühe zu gebären.

Christian Jott Jenny

Unser Gastschreiber
Christian Jott Jenny (41) ist klassischer Tenor, Schauspieler sowie Gründer und Vorsteher des
«Amts für Ideen» mit Sitz in der Altstadt. In Zürich aufgewachsen, studierte er klassischen
Gesang und Schauspiel in Berlin. Daneben widmet er sich gerne verwandten Genres wie Musical und
Operette. Als Tenor tritt er in der Schweiz und in Deutschland auf, in Opern, Operetten,
Musiktheatern oder an Liederabenden. Er rief das «Festvial da Jazz St. Moritz» ins Leben und ist
dessen künstlerischer Leiter. 2018 wurde er überraschend zum Gemeindepräsidenten von St. Moritz
gewählt. – Das Amt für Ideen in der Zürcher Altstadt dient als «ständige Vertretung» von St.
Moritz. Eine Art Honorarkonsulat.
Ab November ist er mit seinem neuen Liederabend im Millers zu hören: «Traktanden nach Noten».
Foto: zVg