«Ich bin eine vom ‹Dorf›»

Bild zum Artikel

Unsere Gastschreiberin Manuela Hitz kommt aus der Ostschweiz. Sie hat sich in Zürich niedergelassen, in der Altstadt, wo sie mit ihrer Familie lebt und wo sie arbeitet.

Mit fünfzehn Jahren bin ich mit einer Freundin zum allerersten Mal von Grabs nach Zürich gereist. Das Taschengeld reichte gerade für das Zugbillett und einen Kebab im Niederdorf. Doch der hatte es in sich! Jeder Bissen schmeckte nach Freiheit und gab uns Teenagern das Gefühl vom Erwachsenwerden.
Staunend schlenderten wir durch die Altstadt. Wir klapperten Secondhand-Geschäfte ab, steckten unsere Nasen in alle Ecken und Winkel und beobachteten die Menschen. Alles schien neu, bunter, cooler und spannender. Schon damals dachte ich, dass es ein Privileg sein muss, wenn man hier wohnen kann. Die Vielfalt von innovativen kleinen Geschäften, gemütlichen Lokalen und aussergewöhnlichen Menschen hatte es mir auf Anhieb angetan.

Der Nabel der Welt
Kein Wunder, dass es mich auch während dem Kunst-Studium an der ZHdK immer wieder ins Niederdorf zog. Seit acht Jahren lebe ich nun hier. Das Dörfli ist für meine Familie und für mich privat und beruflich zum Lebensmittelpunkt oder sogar zum Nabel der Welt geworden. Neben meinem eigenen Kunstschaffen arbeite ich in der Galerie S. Brunner an der Brunngasse 11 und seit einem guten Jahr auch mit grosser Begeisterung im Musée Visionnaire am Predigerplatz 10. Einen besseren Platz als das Niederdorf könnte ich mir für dieses kleine feine Museum nicht vorstellen. Es ist ein wahrer Ort der Entdeckung, bietet Menschen eine Plattform, die nicht im etablierten Kunstzirkus mitmischen und oft im Verborgenen Grossartiges schaffen. Wie zum Beispiel Walter Baumann alias Walbaum, aus dessen Nachlass in der aktuellen Ausstellung «Papagena und andere schräge Vögel» viele seiner Erzeugnisse aus dem Stadtarchiv (das sich ja auch in der Altstadt, im schönen Haus zum Rech, befindet) präsentiert werden.

Niederdörfler par excellence
Walbaum war ein Niederdörfler par excellence, wohnte an der Chorgasse 7 und ist noch immer vielen Menschen als liebenswürdiger (Lebens-) Künstler und Kneipenphilosoph in allerbester Erinnerung. Einige davon erzählen im Video, das speziell für die Ausstellung im Musée Visionnaire gedreht wurde, von ihren ebenso persönlichen wie berührenden Erinnerungen an diesen aussergewöhnlichen Menschen. Zu Ehren von diesem Stadtoriginal ist auf der Getränkekarte der Bar am Predigerplatz 38, die meinem Mann Roger gehört, neuerdings auch ein Walbaum-Drink – ein Himbeersirup mit einem Schuss Zürcher Kirsch (oder je nachdem ein Kirsch mit einem Schuss Sirup) – zu finden. Und das junge Team vom benachbarten Restaurant «Rechberg 1837» überlegt sich, Walbaums «Kräuterbrot mit 42 Zügsli drin», wie es im Rezept von Walter Baumann heisst, als Beilage zu Käse anzubieten. Das sind Highlights für mich. Denn mit solchen Aktionen lebt ein Stück Lokalgeschichte auf. Dass ich mit meiner Arbeit etwas dazu beitragen kann, macht mich glücklich.
Aus diesem Grund helfe ich auch gerne in Rogers Bar aus. Die Menschen, die ich da antreffe, sind ein Teil vom Niederdorf und die Gespräche mit ihnen bedeuten mir sehr viel. Sie geben mir ein wohltuendes Zusammengehörigkeitsgefühl. «D’Bar» ist – wie andere Lokale in diesem Kreis auch – zu einer Art Altstadt-Stube, einem heimeligen, unkomplizierten Kunst- und Begegnungsort geworden. Die Bilder an den Wänden werden regelmässig ausgewechselt.

Kreatives Potenzial
Der Einbezug von Menschen, die sich mit dem Niederdorf verbunden fühlen, liegt mir am Herzen. Die unterschiedlichen Menschen bergen viele Talente in sich, die zur allgemeinen Lebensqualität im Quartier beitragen, wenn sie geteilt werden können.
So bringt die Zürcher Künstlerin Olivia Etter zum Beispiel jeden Donnerstag einen grossen Topf voll Suppe in «D’Bar», selbstverständlich mit auserlesenen marktfrischen Zutaten zubereitet.
Und demnächst wird hier der von Andreas Schneider exklusiv für diesen Ort gestaltete Stammtisch feierlich eingeweiht werden können.
Ich wünsche mir, dass der Dorfcharakter und das kreative Potenzial von Menschen im Niederdorf wieder so richtig aufblühen können. Liebend gerne würde ich beispielsweise auch die legendäre Curiositäten-Arena, die zu Walbaums Zeiten auf dem Predigerplatz stattgefunden hat, wieder ins Leben rufen.
An Ideen fehlt es nicht und ich bin gespannt, was daraus wird. Ich hoffe, dass sich möglichst viele Menschen dafür einsetzen, dass die grossartige Lebensqualität auf diesem kleinen Fleck Erde erhalten und bereichert werden kann.
Ich selbst fühle mich pudelwohl in der Altstadt und würde mich sogar als bekennende Wahlzürcherin bezeichnen. Nur in den Skiferien, bei Sonne, Schnee und Wind in den Bergen, da schlägt mein Herz jeweils wieder im Bündner Takt. Aber das sind ja nur ein paar Tage im Jahr. Für den Rest des Jahres bin ich mit Haut und Haar eine vom «Dorf».

Manuela Hitz

Unsere Gastschreiberin
Manuela Hitz (1980) ist in Grabs im St. Galler Rheintal aufgewachsen. Nach Abschluss des Lehrerseminars in Sargans (2001) arbeitete sie vier Jahre in einem Sonderpädagogischen Heim in Hemberg (SG). Es folgten Wanderjahre und 2008 der Vorkurs an der ZHdK. Sie machte den Bachelor in Medialer Kunst und den Master in Bildender Kunst (2016).
Anschliessend begann sie in der Galerie S. Brunner an der Brunngasse zu arbeiten. Zusätzlich dazu übernahm sie 2018 zusammen mit Yvonne Türler die Künstlerische Leitung des Musée Visionnaire am Predigerplatz.
2012 zog sie mit ihrem Mann Roger Stähli in die Altstadt, wo sie heute mit den Kindern Miro (8) und Pepina (4) leben.