Nachruf Roy Bosier

Wer ihn gekannt hat, gibt dem Satz auf der Todesanzeige recht: «Ein grosses Herz hat aufgehört zu schlagen.»

Vor dreizehn Jahren lernte ich Roy Bosier kennen. Er suchte einen Nachfolger für die Kinderakrobatik im GZ Altstadthaus, wo der damals über sechzigjährige Roy noch Purzelbäume und Strecksprünge selber vorturnte. Im kleinen Souterrain des Altstadthauses herrschten klare Strukturen; Disziplin war eines der Worte, welches den kleinen Kinderohren beharrlich vertraut gemacht wurde. «Disziplin» sagte Roy, doch Sanftmut und Mitgefühl sprachen seine Augen. Seine grosse Menschenkenntnis sowie sein ausserordentliches Gespür machten ihn zu einem grossen Lehrmeister, der es verstand, Menschen zu führen, und er wusste, worauf es ankam: Beharrlichkeit, Direktheit, immer ein offenes Ohr und einen wohlgemeinten Rat, Bescheidenheit, Fürsorglichkeit und vor allem eine Extraportion Humor.
Gelacht wurde viel in der kleinen Wohnung am Predigerplatz, bei einem Kaffee oder einem Teller Spaghetti. Wann immer ich spontan zu Besuch kam, erwies sich Roy als höflicher Gastgeber, interessierter Gesellschafter und leidenschaftlicher Humorist.
Mit Leidenschaft hat denn auch Roy Bosier seinen glamourösen Lebensweg beschritten: 1931 in Schottland geboren, verliert er mit vier Jahren nahezu sein ganzes Gehör und bekommt drei Jahre später, als die Familie in die Schweiz zurückkehrt, Förderung im Lippenlesen. Es folgt ein Handelsdiplom, Ballettstunden, eine Handwerkslehre als Kürschner und der Abschluss der Modeklasse an der Kunstgewerbeschule Zürich. Von dort geht es nach Paris, wo er an der Seite von Pierre Cardin zunächst als Praktikant, später als Mitarbeiter dessen Modekollektion entwirft. Gleichzeitig lässt sich Roy von Altmeister Etienne Decroux als Pantomime ausbilden und trifft dort auf Jean-Louis Barrault, Giorgio Strehler und Marcel Marceau, die bald zu seinen grössten Förderern zählen. Marceau empfiehlt ihn als Lehrer an die römische Filmschauspielschule, wo er unter anderem Claudia Cardinale unterrichtet. Es folgen Filme mit Sergio Leone, Roman Polanski und Frederico Fellini, sowie Engagements am Piccolo Teatro Milano und die Gründung seiner eigenen Schule, dem Teatro Studio in Rom.
Später zieht es Roy nach Zürich zurück, an den Predigerplatz, wo er eine Familie gründet und seine Tochter Sara 1983 zur Welt kommt. Jetzt verpflichtet sich Roy dem Schauspielhaus Zürich als Choreograph, Fechtmeister und Körpertrainer und spielt gelegentlich selbst.
Mittlerweile hat sich Roy als Physiotherapeut weitergebildet und eignet sich bis zuletzt zahlreiche Heilpraktiken an, um seine «guten Hände» in den Dienst der unmittelbaren Menschlichkeit zu stellen. Auch in diesem Sinne gründet er den Turnverein der Altstadt.
Roy hat die Menschen studiert, die Kunst und das Leben; selten trifft man jemand mit solch einer Beobachtungsgabe und Einfühlsamkeit, mit solch wachen und blitzenden Augen und einem so fröhlichen und grossen Herz.
Alles, was er bekommen hat, hat er weitergegeben. Einer der ganz grossen Lehrer und Menschen ist da gegangen, aus unserer Mitte, hier in der Altstadt. – So werde ich den Duft seiner Tabakpfeife in den Gassen und sein liebevolles «Ciao ciao» vermissen.

Tom Tafel