Stationen des Lebens
Unser Gastschreiber Clément Olivier Meylan lebte in Paris, war als Reiseleiter unterwegs und wohnt seit einiger Zeit in der Zürcher Altstadt. Auch beruflich hat er schon einiges unternommen.
Manchmal braucht es etwas Glück im Leben. Als mich die Verwalterin von Liegenschaften Stadt Zürich im Dezember 2021 anrief und mitteilte, dass die Wohnung an der Brunngasse 8, für welche ich mich beworben hatte, uns zugesprochen worden sei, ging es eine Weile, bis ich realisierte, was das für uns bedeutete: Ja, ein sagenhaftes Glück, ein Privileg, mitten im Niederdorf in diesem historischen Gebäude wohnen zu dürfen.
Über das Haus an der Brunngasse 8 gibt es natürlich unendlich viel zu berichten: ein Film wurde gedreht und ein Buch publiziert. Denn ja, im 1. Stock befinden sich schliesslich die «Schauplatz Brunngasse»-Räumlichkeiten. Nun bin ich nicht die richtige Person, um über dieses geschichtsträchtige Haus zu sprechen. Wer sich dafür interessiert, tut sicherlich gut daran, mal die Ausstellungsräume zu besuchen. Oder kauft sich das kürzlich erschienene Buch, welches uns die Geschichte dieses Hauses – oder wenigstens eines Teils davon – näher bringt.
Mühsames Pendeln
Wie kam es also zum oben erwähnten Anruf? Ich drehe das Rad der Zeit etwas zurück, ins Jahr 2013 nämlich, als meine Familie und ich noch in Bern wohnten. Nach der bestandenen Prüfung zum sogenannten Fast-Track für Quereinsteiger an der PHZH pendelte ich ab da täglich zwischen Bern und Zürich. Ein halbes Jahr später mussten wir «Fast-Trackler» bereits mit dem Unterrichten anfangen, ein Sprung ins kalte Wasser. Mit einem jungen Kollegen hatte es mich ins Glatttal verschlagen (dem ich dann doch immerhin zehn Jahre treu blieb). Arbeitsweg von Tür zu Tür: Insgesamt vier Stunden täglich, meist in einem total überfüllten Zug. Klar, dass ich mich da sehr bald nach einer Wohnung in Zürich umschaute.
Mein Berner Umfeld betrachtete es als aussichtslos, in Zürich eine Wohnung zu finden. Auch ein Zürcher Kollege riet mir, mich besser gleich in Schlieren zu bewerben, in Zürich hätte ich keine Chance. An diesen Ratschlag hielt ich mich aber nicht und auch sonst liess ich mich nicht beirren.
So wurde ich schliesslich doch fündig und zwar im ruhigen Teil der Rötelstrasse im Quartier Unterstrass. Der Mietvertrag war leider zeitlich befristet, aber immerhin konnten meine Familie und ich schon mal in Zürich Fuss fassen. Kurz darauf mussten die Hauseigentümer aus finanziellen Gründen dann ihre Renovationsambitionen zurückfahren, so dass aus unserem befristeten ein unbefristeter Mietvertrag wurde. Die Pendlerei zwischen Bern und Zürich war endlich vorbei. Obwohl in Bern aufgewachsen, war ich seither nie mehr in der Bundeshauptstadt.
So schön und gemütlich es an der Rötelstrasse war, so klar war mir, dass die Hauseigentümer eines Tages doch noch die Totalsanierung unseres Hauses in Angriff nehmen würden. Es war in der Corona-Zeit oder ein bisschen vorher, als ich anfing, mich auf Wohnungsinserate der Stadt Zürich zu melden. Aber allen ist wohl klar, wie schwierig es tatsächlich ist, da eine Wohnung zu ergattern. Schon zu den Besichtigungen wurden nur wenige eingeladen.
Insgesamt habe ich eine Wohnung im Seefeld und zwei im Niederdorf besichtigen können. Und: man musste – Corona-bedingt – alleine kommen. Also filmte ich die besuchten Wohnungen, um sie anschliessend meiner Tochter zu zeigen. Ja, der Familienkern war inzwischen auf uns zwei geschrumpft.
Wohnung in der Altstadt
Das an der Brunngasse gedrehte Besichtigungsfilmchen, Räume mit bunten Wänden und eine tolle Küche zeigend, gefiel meiner Tochter. Ausschlaggebend für ihre Begeisterung war jedoch die Aussicht auf das historische Niederdorf und die Uni Zürich.
Selber war ich erst nicht so scharf auf die Wohnung, denn ich fand die Miete etwas sehr hoch und den Grundriss banal. Was mich aber bald umstimmte, war die gemeinsame Dachterrasse, die ich dank Google Maps entdeckte.
Also schickte ich die Bewerbung ab, ergänzte sie durch ein Motivationsschreiben, in dem ich unsere etwas ungewöhnliche Familiensituation – alleinerziehender Vater mit Tochter – erwähnte. Es kann durchaus sein, dass dieser Punkt entscheidend war. Die Rötelstrasse liessen wir also hinter uns, noch bevor dort allen Mieterinnen und Mietern gekündigt wurde und zogen im Februar 2022 an der Brunngasse ein.
Die bunten Wände waren zum Glück weiss gestrichen worden, aber ein Lift fehlte immer noch. Vier Stockwerke zu Fuss, das ist happig. Denn ja, vieles musste neu angeschafft und hochgeschleppt werden, auch nach dem eigentlichen Umzug.
Ausserdem haben es Altwohnungen, auch grossartig renovierte, in sich, wenn es darum geht, sie praktisch einzurichten. Nirgends ein rechter Winkel, kein ebener Boden. Über Monate werkelte ich und ergänzte die Wohnung mit Gestellen und Ablageflächen. Diesen Aufwand trieb ich auch nur, weil ich davon ausgehe, dass dem Haus in näherer Zukunft keine Gesamtsanierung droht.
Das Quartier erkunden
Nach dieser Phase des Einrichtens war es ursprünglich mein Ziel, das Quartier auszukundschaften, mich im Quartierleben einzubringen. Das ist mir bisher nur beschränkt gelungen. Denn immer noch ist die berufliche Arbeitsbelastung gross, und meine Pflichten als Hausmann sind auch nicht zu unterschätzen, obwohl meine Tochter inzwischen 16 Jahre alt ist.
Umso mehr lausche ich mit Spannung denjenigen – zum Beispiel anlässlich eines «Stammtischs» des Quartiervereins –, die schon lange im Quartier leben und beneide sie um ihre Ortskenntnisse. Immer noch schwebt mir vor, mal so richtig eine Runde zu drehen in den vielen Kneipen des Niederdorfs. Oder mich einer Stadtführung anzuschliessen, um meine Wissenslücken wenigstens teilweise zu schliessen. Und endlich die Terrasse unseres Hauses mit ihrer fabelhaften Aussicht zu geniessen.
Davor, in Paris
Ich möchte das Rad der Zeit jetzt noch etwas weiter zurückdrehen, nämlich ins Jahr 1989. In diesem Jahr zog ich mutig nach Paris, um mich dort als Fotograf zu verwirklichen. Die Sprache beherrschte ich und in Paris hatte ich ein paar Bekannte, die mir dabei halfen, Fuss zu fassen.
Keiner wird daran zweifeln, dass es auch in Paris schwierig ist, eine Mietwohnung zu finden. Der Status als Schweizer half mir dabei eindeutig. In erstaunlich kurzer Zeit war ich glücklicher Mieter einer charmanten Zweizimmerwohnung im 15. Arrondissement.
Für Vogue habe ich nie fotografiert, die Fotoaufträge blieben allgemein bescheiden. Aber die Schweiz liess mich nie ganz im Stich: Ich konnte nämlich bald für das «Centre Culturel Suisse (Pro Helvetia)» die kulturellen Events fotografisch abdecken. Später kamen als regelmässiger Kunde auch «La Maison de la Culture du Japon à Paris» und andere dazu.
Nochmals zum Wohnen: Im Gegensatz zu Zürich ist das Erstehen von Wohneigentum in Paris allgemein verbreitet. Heute sind die Preise hoch, aber in den frühen 1990er-Jahren waren Schnäppchen noch möglich. Ein solches zu finden, das hatte ich mir zum Ziel gesetzt, denn mit meinem knappen Budget war gar nichts anderes möglich. Das war nun ein zähes Suchen und nahm Monate in Anspruch. Aber ich fand den Aufwand lohnend.
Eines Tages kam mir der Zufall zu Hilfe: Das Inserat des Verkäufers war in einer falschen Rubrik publiziert worden, so dass es kaum jemand gesehen hatte. Obwohl total heruntergekommen, gefiel mir das Lokal – ein Atelier mit Glasdach –, auch die Nachbarschaft passte mir. Ich verbrachte eine Nacht mit Planen und Zeichnen, denn es hatte weder Bad noch Küche. Als ich sah, dass meine Ideen umsetzbar waren, entschied ich mich für den Kauf. Der Umbau ging problemlos über die Bühne.
So gut es mir hier all die Jahre gefiel, sagte ich mir immer wieder, dass ich, falls ich in die Schweiz zurückkehren müsste, in Zürich leben möchte. Meine Tochter kam in Paris zur Welt. Als aber meine betagte Mutter in Bern hilfsbedürftig wurde, entschlossen wir uns, mehrheitlich bei ihr in ihrem Haus zu wohnen und uns um sie zu kümmern. Meine Mutter blühte auf, ihre Tage erhellt durch die Gegenwart unserer kleinen Tochter.
Wir aber blieben in einer Art Stand-By-Modus, ohne wirklich in Bern Fuss zu fassen. Und da sind wir schon bei der vorherigen Schlaufe angelangt, nämlich in der Zeit, als ich in Zürich mit dem Studium an der Pädagogischen Hochschule anfing.
Mehr Zeit haben
Wieso dieser Bogen? Meine Tochter ist ganz und gar mit Zürich verbunden. Bern ist vollständig abgeschlossen und Paris liegt ihr nicht besonders (sie kennt es gut, weil wir regelmässig in den Ferien dorthin fahren).
Wenn also die Zeit kommt, dass sie schon etwas selbständiger ist, dann möchte ich wieder mehr Zeit in Paris verbringen. Die Wohnung dort hat über die Jahre gelitten und viel Arbeit wartet auf mich.
Natürlich werde ich spätestens dann auch mehr Zeit haben, im Niederdorf zu flanieren. Ich hoffe aber, bis dahin das Niederdorf schon ausgiebig erkundet zu haben.
Clément Olivier Meylan
Unser Gastschreiber
Clément Olivier Meylan (1957) ist in Bern aufgewachsen, wo er die Matura machte und 1982 das Konservatorium abschloss als Querflötist mit Lehrdiplom. Danach tätig als Musiker und Instrumentallehrer. 1985 wechselte er zur Fotografie, lernte er als Fotoassistent das Handwerk und arbeitete als Freelancer. 1989 zog er nach Paris, wo er bis 2008 in einem Wohnatelier lebte. Von 2001 bis 2011 war er nebenberuflich als Reiseleiter tätig, vorwiegend in Asien, aber auch in Teilen Afrikas. 2008 zog er wieder nach Bern und 2014 nach Zürich, wo er als Quereinsteiger zum Lehrerberuf kam. Seither ist er als Primarlehrer tätig, nach der Pensionierung 2022 mit reduziertem Pensum. Seit 2022 lebt er in der Altstadt, mit seiner nun 16-jährigen Tochter Anaïs.
Foto: EM