Dörfliches Leben

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Unser Gastschreiber Pascal Wehrle führt eine Buchhandlung in der Altstadt, wo er das rege Quartierleben mit all den Menschen – und auch einigen Tieren – schätzt.

Seit 1998 führe ich die Buchhandlung Medieval an der Spiegelgasse 29. Das macht 25 Jahre, eine wahrlich längere Zeit. Bei der Übernahme des Geschäfts war ich 40 Jahre alt. Rechne! Am Anfang war mir dieses Quartier eher unbekannt, da ich vorher in Altstetten und Umgebung gearbeitet hatte. Wohnhaft bin ich mit meinem Ehemann Egon Fässler seit über 35 Jahren in Zürich-Höngg. Auch ein schönes Quartier! – Da ich in einer  ländlichen Gegend aufgewachsen bin, fühlte ich mich im Oberdorf sehr schnell heimisch und vertraut. Der dörfliche Charakter und auch das soziale Netz in diesem Teil der Stadt hat mich immer wieder an meine Kindheit erinnert. Hier kennt man sich! Ob alt oder jung spielt gar keine Rolle.
Einige Menschen, die hier gelebt haben, darunter auch Freunde und Freundinnen, sind in den vergangenen Jahren gestorben. Manchmal erinnere ich mich an sie und bin zwar traurig, dass sie nicht mehr da sind, aber auch dankbar für die guten und teilweise auch sehr lustigen Momente, die man gemeinsam erlebt hat. In bester Erinnerung ist mir dabei ein Anwohner, der jeweils beim Lichterfest im November die Kerzen-Gläser mit der Bemerkung malträtierte: «Was isch dänn das für en hure Seich!»
Der Spielplatz vor meinem Laden war nicht immer so ruhig und angenehm wie heute. Früher war er auch ein Drogenumschlagsplatz und mehrmals sah man Kinder, welche gebrauchte Spritzen, die sie gefunden hatten, in der Hand hielten. Meine Vorgängerin hat mich immer davor gewarnt, dass ich eines Tages überfallen werden könnte, von einem Junkie mit der Spritze in der Hand. Ich habe mich über diese Warnung immer lustig gemacht. Glücklicherweise ist mir niemals sowas auch widerfahren. Dagegen wurde meine Schaufensterfront zweimal mit grossen Steinen zerstört, was mich jeweils völlig ohnmächtig und frustriert zurückliess. Ein grosses Ärgernis waren häufig auch die Hunde, die ihr grosses Geschäft direkt vor dem Laden verrichteten und die Besitzer der Hunde, die den Dreck ihrer Vierbeiner einfach liegen liessen. Heute kommt das nur noch ganz vereinzelt vor, wofür ich äusserst dankbar bin.

Königlicher Kater
In bester Erinnerung ist mir der Kater des Quartiers namens Monti, der ein echter König war. Wir alle standen in der Pflicht ihm zu dienen und ihn zu umsorgen. Nicht selten sprang er auf meinen Schreibtisch und setzte sich mitten auf meinen Computer, um sich seinen Allerwertesten aufzuwärmen. Nach seinem tragischen Ableben wurde eine Staatstrauer verordnet, die absurde Ausmasse annahm. Einige meiner Bekannten kamen weinend und klagend zu mir, um über den Hinschied von Monti zu jammern. Dabei dachte ich an den Choral aus Bachs Matthäus-Passion «Eilt herbei ihr Töchter, helfet klagen».
Seit einigen Jahren haben wir zwei neue Katzen im Quartier. Es sind die Maudis Philou und Cino. Beide sind wunderbar, sehr zutraulich und freundlich. Etwas vertragen sie aber ganz und gar nicht, nämlich Hunde! Mit denen sind sie gnadenlos! Das hat schon mancher von ihnen schmerzhaft zu spüren bekommen!

Reges Quartierleben
An der Spiegelgasse gibt es den Zaubergarten der Toblers. Ein wunderbarer Ort, der von so liebenswerten Menschen kultiviert wird. Der Felsenegg-Keller ist ebenfalls einer meiner Lieblingsorte in der Umgebung, wo wir schon viele schöne Anlässe erleben durften.
Früher gab es noch die Bäckerei Bertschi und die Käserei Müdespacher an der Marktgasse und gegenüber den Samen-Mauser unter der Leitung von Herrn Singenberger. Dieser arbeitete mit einer resoluten Dame zusammen, die sich zu wehren wusste. Sagte Singenberger A, sagte sie B – und umgekehrt. Die haben sich immer gestritten und oft musste ich laut lachen, weil sie sich fast in die Haare geraten sind. Noch heute erinnere ich mich gerne an die Momente, die ich an der Marktgasse erleben durfte. Der «Blutige Daumen» gleich um die Ecke ist seit Jahren mein Stammlokal im Quartier. Das ganze Personal besteht aus wahren Goldschätzen und kommt aus den verschiedensten Regionen dieser Welt.
An der Spiegelgasse 29 bin ich von äusserst lieben und hilfsbereiten Menschen umgeben. Hier fühle ich mich sauwohl und bestens aufgehoben. Interessante Gespräche mit dem grossen Filmemacher Fredi Murer sind bereichernd. Da spricht ein Mann mit unglaublich vielfältiger Erfahrung.
Die Winter sind manchmal hart, da die Gasse immer kalt und feucht ist. Im Sommer, auch bei grösster Hitze, bleibt es meistens angenehm kühl und das Leueplätzli mit dem grossen Brunnen ladet zum Bade. An kreischenden Kindern besteht dabei nie ein Mangel.
Ein Ort, den ich sehr schätze, ist das Theater am Neumarkt, an dem die liebe Diane als Maskenbildnerin tätig ist.

Kulturelle Anlässe
Vor der Jahrtausendwende hatte ich mehrere Ausstellungen und Anlässe in der Kronengalerie an der Froschaugasse. Diese wurde in der Zeit von Hanne Bee geführt. Eine äusserst charmante Dame, mit der ich mich bis zu ihrem Tod bestens verstanden habe.
Bei einer Ausstellung mit marokkanischen Geweben lernte ich Mathes Seidl aus dem Musikerhaus gegenüber der Galerie kennen. Zwischen uns entwickelte sich eine wunderbare und tiefe Freundschaft und so reisten wir mehrmals zusammen nach Marrakesch und durch Marokko. Zusammen mit Egon bestritt er viele kulturelle Anlässe im Altstadthaus, in der Galerie, bei mir im Laden und sonst «echli uf de ganze Wält».
An vielen kulturellen Anlässen war meine Freundin Lilly aus Beinwil dabei. So hat sie viele Lesungen in Toblers Garten, im Theater Stok, im Felsenegg-Keller und bei mir im Laden bravourös gestaltet. Wegen der Pandemie wurde das kulturelle Leben stark reduziert. Wir sind dabei, unsere Anlässe wieder aufleben zu lassen und hoffen auf rege Teilnahme und Unterstützung.
Und zum Schluss noch dies: Ein grosses Ärgernis für mich sind die zahllosen Velos, die trotz striktem Fahrverbot regelmässig die steile und schmale Spiegelgasse zwischen Unterer Zäune und Neumarkt in einem Affenzahn völlig verantwortungslos und rücksichtslos hinunter brausen. Amen!

Pascal Wehrle


Unser Gastschreiber
Pascal Wehrle (1958) ist in Langnau am Albis aufgewachsen. Er absolvierte eine Lehre als Schallplattenverkäufer bei Musik Hug am Limmatquai und war danach drei Jahre angestellt bei der Neuen Schweizer Bibliothek als Leiter der Musikabteilung, sodann war er zehn Jahre für die Musikvertriebsfirma Music Consort tätig.
1998 übernahm er die Mittelalter-Buchhandlung Medieval an der Spiegelgasse, die er seither (bis 2010 zusammen mit seiner Schwester Claudine) führt. Er hat das Sortiment ausgebaut um die Sparten Orient, Marokko etc.
Er organisiert Lesungen und musikalische Veranstaltungen. Seit 1978 weilt er oft in Marrakesch; Marokko ist zu seiner zweiten Heimat geworden.
Seit 1978 lebt er mit seinem Partner Egon Fässler in Höngg.

Foto: EM