Nachbarschaft und Vielfalt

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Unser Gastschreiber Jurij Murašov lebt mit seiner Familie seit zwanzig Jahren in der Altstadt, wo er sich sehr wohl fühlt. Die Gründe dafür schildert er in seinem Beitrag.

Bei einem unserer Wochenendbesuche in Zürich fassten meine Frau Mireille und ich den waghalsigen Entschluss, trotz Arbeit an der Universität Konstanz, vom Bodensee nach Zürich, in die «Grossstadt», zu ziehen. Mobilität gehört ja schliesslich zum modernen Leben, und in Berlin oder München ist eine gute Stunde Fahrzeit zur Arbeit nichts Aussergewöhnliches! Anderer Meinung war da aber das deutsche Beamtenrecht, das uns in einem Bannkreis von 30 Kilometer um den Arbeitsort wissen wollte. Erst durch einen befürwortenden Entscheid des Stuttgarter Innenministers wurde unser Umzugsprojekt schliesslich möglich. Dafür belohnte uns das Schicksal auf dreifache Weise: Zunächst, indem es uns überraschend schnell eine Wohnung finden liess – in der Zürcher Altstadt, direkt über dem wunderbaren Geschäft der Familie Schwarzenbach. Dann, als es Mireille eine Stelle an der Universität Zürich bescherte, nachdem mit der Geburt unserer beiden Kinder Kolja und Lara sich die Alltagsorganisation mit zwei Berufspendlern erheblich verkompliziert hatte. Ein Pendler in der Familie war nun gut zu verkraften. Und schließlich, als es uns die Möglichkeit bot, innerhalb der Altstadt in eine für eine vierköpfige Familie noch passendere Wohnung an der Unteren Zäune zu ziehen.

Kultur des Vertrauens
Nun leben wir bereits über 20 Jahre in der Zürcher Altstadt. Für Mireille, die gebürtige Zürcherin, waren diese Jahre eine Zeit der Entdeckungen von vielfältigen, ungeahnten Facetten ihrer Geburtsstadt. Gegenüber ihrem Insiderwissen ist für mich als «Zugereisten» die Zürcher Altstadt eine recht fundamentale neue Erfahrung städtischen Lebens. Davon erzähle ich gern und immer wieder, wenn ich von Jugend- und StudienfreundInnen oder KollegInnen aus Ljubljana, München, Bielefeld oder Berlin gefragt werde, wie es mir denn so gehe in der Schweiz und in Zürich. Meine Antwort besteht dann immer aus zwei Kapiteln, die ich je nach GesprächspartnerIn unterschiedlich akzentuiert und ausgeschmückt zum Besten gebe: Zunächst kommen Geschichten und Episoden über die Kultur des Vertrauens und der Nachbarschaftlichkeit, die ich in der Altstadt kennen und schätzen gelernt habe; denn diese ist wirklich bemerkenswert. Andernorts sind urbane Lebensräume eher von Anonymität geprägt und soziales Vertrauen muss irgendwie formal oder institutionell abgesichert sein.
Hier dagegen gibt es Episoden wie zum Beispiel die folgende – mein Lampenerlebnis. Wir brauchten im Wohnzimmer eine neue Beleuchtung, hatten schon lang gesucht und wurden endlich fündig im «Neumarkt 17». Unsicher, wie sich das schöne Objekt schliesslich dann aber in unsere Wohnung einpasst, wurde ich aufgefordert, die Lampe doch einfach mitzunehmen, auszuprobieren und entweder zurückzubringen oder zu behalten und zu kaufen. Ich solle mich dann wieder melden. Ohne Adresse, Name oder sonst eine Sicherheit zu hinterlassen, durfte ich das schöne Teil nach Hause nehmen… Ich staune bis heute über dieses Grundvertrauen, das mir seitdem in der Altstadt immer wieder in ähnlicher Art begegnet. Solche Kredite kenne ich aus engmaschigen, oft ländlichen Jeder-kennt-jeden-Gemeinschaften, nicht aber aus städtischen Regionen. Insofern ist die Zürcher Altstadt wirklich «s’Dörfli»!

Rege Nachbarschaftlichkeit
Mit dieser Kultur des Vertrauens hängt wohl auch die rege Nachbarschaftlichkeit zusammen, die das Leben in der Altstadt auszeichnet, von den Adventskalender-Events bis zum Neumarktfest oder auch hochkarätig besetzten Hauskonzerten und Lesungen, bei denen anschliessend ein liebevoll zubereiteter Apéro serviert wird. Der Quartierverein samt dem Altstadt Kurier, in dem die wichtigsten Informationen des Quartiers gebündelt werden und die Fäden der sozialen Netze sich verstärken, tun das Ihrige dazu.

Bunte Vielfalt
Das zweite Kapitel meiner Antwort an die auswärtigen FreundInnen ist dann eher besinnlich-politischer Art, erklärt aber vielleicht auch etwas die spezielle Vertrauens- und Nachbarschaftskultur der «dörflichen» Zürcher Altstadt. Es handelt von den städtischen Liegenschaften im Quartier, die es möglich machen, zu angemessenen Mieten sowohl Wohnungen für Familien mit Kindern als auch Gewerbeflächen für Handwerksbetriebe, Gastronomie oder Kultur bereitzustellen und so die bunte Vielfalt der BewohnerInnen und des Gewerbes, kleiner Läden, Handwerksbetriebe, Cafés, Restaurants zu gewährleisten. Während sich zum Beispiel im Ljubljana meiner Kindheit die historische Innenstadt in eine Gastronomiewüste für Touristen verwandelt hat und für die angestammten BewohnerInnen unbezahlbar geworden ist, finden sich hier im Zürcher Dörfli immer noch Ecken, Winkel und Höfe, die vielfältige Lebensweisen ermöglichen. Gerade meine Berliner GesprächspartnerInnen staunen, wenn sie von diesen kommunalen Liegenschaften hören: Und das in der Finanzmetropole Zürich!
Wenn meine reale Sozialutopie ihre Wirkung gezeigt hat, muss ich dann aber doch eingestehen, dass in den vergangenen zwanzig Jahren, in denen wir im «Dörfli» leben, auch hier die Entwicklung städtischer Immobilienmärkte immer stärker zu spüren ist. Kleine Läden, Spezialgeschäfte und auch Kinos schliessen, werden verdrängt von repräsentativen Flagship-Stores. Global operierende Unternehmen erwerben oder mieten luxussanierte Wohnungen für kurzfristige Einsätze ihrer MitarbeiterInnen am Finanzplatz Zürich.
Gerade angesichts dieser Dynamik zeigt sich der kulturelle und soziale Wert der städtischen Liegenschaften. Es ist zu hoffen, dass sich die Stadt dessen bewusst bleibt!

Jurij Murašov


Unser Gastschreiber
Jurij Murašov wurde 1952 in Ljubljana (Slowenien) im ehemaligen Jugoslawien geboren. 1957 ging die Familie nach Berlin, 1961 nach München. Hier studierte er Slavistik, Germanistik und Philosophie und kam 1985 nach Bielefeld, wo er Dissertation und Habilitation erlangte. Ab 1995 lehrte er an der Humboldt-Universität in Berlin, kehrte 1997 nach Bielefeld zurück, bevor er 2001 auf den Lehrstuhl für Slavische Literaturen nach Konstanz berufen wurde. Seit 2021 ist er emeritiert.
Aus erster Ehe stammen zwei erwachsene Kinder. 2003 übersiedelte er mit seiner heutigen Frau Mireille von Kreuzlingen nach Zürich, wo er mit ihr und den zwei Kindern Kolja und Lara in der Altstadt lebt.
Er geniesst es, Zeit zum Schreiben zu haben, zu kochen und in die Berge zu gehen.

Foto: EM