Authentisch und verbunden

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Unsere Gastschreiberin Martina Melcher wohnt in der Altstadt und schildert ihre Eindrücke vom Leben in den Gassen und dem Verbundensein der Menschen.

Aufgewachsen am Greifensee, war für mich Zürich immer die grosse Stadt. Mein Vater verbrachte jeweils den «Männerabend» in Zürich und dies war immer ein teures Unterfangen,
da er auf der Fahrt im letzten Zug jeweils einschlief und von Rapperswil ein Taxi nach Hause nehmen musste. Die «Bodega» war mir von klein auf schon ein Begriff und auch das «Tasca Romero». Highlight war es, als Kind selber mit nach Zürich zu fahren und in der Marktgasse beim Bianchi Meeresgetier zu kaufen. In der winzigen Bäckerei nebenan gab es die knusprigen Engadiner Fladen, meist viel zu dunkel gebackene Roggenbrote.

Annäherung an die Altstadt
Da ich als Teenie lieber die Wälder durchsteifte, statt in den klassischen Ausgang zu gehen, hatte ich den ersten wirklich tiefen Kontakt mit dem «Tsüri Kreis 1» erst einiges später.
Ich hatte mein Studium an der ETH begonnen, fuhr mit dem Zug an den Bahnhof Stadelhofen und lief von dort aus durch die Oberdorfstrasse bis zur Münstergasse, vorbei «am Schwarzenbach» und den Rindermarkt hinauf. In der Früh war noch Stille in den Gassen, ein Spiel von Licht und Schatten. Ein Erwachen der Stadt.
Am Rindermarkt 3 grüsste Frankie, der Coiffeur, mit seinem Schalk in den Augen und an der Brunngasse wurde bereits in ruhigen Bewegungen das Gemüse auf dem Stand bereitgestellt. Dies von einem schönen Griechen.
Ich hoffte immer, ihn zu sehen. Es war ein langsames Ankommen in den Tag, ein stilles Werken.

Authentisch
Für das Dörfli bin ich eine Newcomerin. Erst viel später, nach meiner Studienzeit, bin ich an eine der ältesten Gassen gezogen, die Strehlgasse. Ich hatte Glück, dieses Bijou im Haus aus dem Jahr 1580 gefunden zu haben. Ich nenne es «Refugio». Im Pulk mittendrin und doch geschützt von den alten Gemäuern. Blick auf den Lindenhof. Der Vogelgesang inklusive und an den sommerlauen warmen Wochenenden sehr präsent die Ausgangsszene der Agglo. Outsider höre ich manchmal sprechen vom anonymen Zürich. Snobby angehaucht seien die Städter. Dies habe ich nie so erfahren. Im Gegenteil. Die Authentizität der Bewohner besonders im Kreis 1 zeigt ein farbenfrohes Mosaik von Charakteren. Eigen für sich und ergänzend für das ganze Bild. Man grüsst sich, hat ein kurzes Gespräch. Jede für sich ein Original und doch verwoben im Feinen.
Heute ist es die Bäckerei Buchmann am Rennweg, in der ich immer mit der sympathischen Frau einen kleinen Schwatz halte, ausser es steht eine Schlange Menschen hinter mir. Der erste wirkliche Kontakt war vor gut einem Jahr, als die Gassen der Stadt plötzlich leer waren und die wenigen Menschen, die mich kreuzten, mir nicht mehr in die Augen schauten. Lange standen wir da und philosophierten über die Welt, über das veränderte Verhalten der Menschen. – Ein Kontakt von Mensch zu Mensch auch im Bioladen an der Ankengasse. Dort ist ein Eintreten stets eine Bereicherung. Ein Austausch über verschiedenste Themen, sehr verbindend, mit sehr viel Leichtigkeit.

Ein Blick, ein Lachen
Wobei ein Kontakt auch wortlos sein kann. Ein Blick sei die kürzeste Distanz zwischen zwei Menschen, hatte ich als Kind gelernt. Vielleicht ist dies so. Wenn ich vom Limmatquai die Ankengasse zum «Vitus» hochlaufe, passiere ich den Coiffeur. Es wurde zur Gewohnheit, kurz rein zu schauen. Oftmals ist er sehr vertieft, fokussiert auf seine Kundschaft oder mit ihr ins Gespräch vertieft. Doch wenn sich unsere Blicke treffen, grüssen wir uns gegenseitig, rein mit der Gestik. Wir haben noch nie ein Wort gewechselt. Ein kurzer Kontakt nur, doch eben ein feiner Faden eines unsichtbaren Netzwerks, der gesponnen wird.
Es leben viele Menschen hier im Kreis 1 mit Charisma, mit ihren Geschichten, mit ihrer eigenen Art. Wenn ich aus dem Haus trete und die Chance habe, der wundersamen Frau des Pelzgeschäfts gegenüber meinem Haus zu begegnen, dann ist es jedes Mal ein Geschenk. Ihre Augen lachen immer. Die Welt scheint in Ordnung zu sein, auch wenn sie eventuell gerade anders ist. Schön, gibt es solche Menschen, die sich auf die Sonnenseite orientieren und ihre Mitmenschen damit bereichern.
Ähnliches vor dem Hotel Widder. Offenheit kommt mir entgegen von den Männern, welche die Hotelgäste empfangen, Autos umparkieren, mit dem Gepäck helfen. Seit Jahr und Tag dieselben. Stetigkeit in der Zeit der Kurzlebigkeit.

In Kontakt treten
Ja, es gibt Werte, die haben Bestand. Mit der Zeit mitzugehen, flexibel bleiben und trotzdem im Kern sich treu. Die Evolution der Tiere macht es uns vor. Es überleben nur die, welche diese Fähigkeiten haben. Der Kolonialwarenladen Schwarzenbach kommt mir da als Erstes in den Sinn. Rein der Gedanke daran, durch die Türe
zu treten, erweckt die Erinnerung an den Geruch von Kaffee, feinen Gewürzen, exotischen getrockneten Früchten. Tausende von Molekülen, wild orchestriert und doch auf eine Art harmonisch. Irgendwie schön, wenn Orte und Läden Bestand im Innern zeigen. Immer wieder ein bisschen heim kommen. – Dies ist meine kleine Geschichte von meinem Leben im Kreis 1. So nehme ich in ihn wahr. Jeder könnte wohl Ähnliches erzählen. Die stille Verbundenheit und Verwobenheit der Menschen. Jeder in seinem Leben und jeder doch mit dem anderen in Kontakt. Vielleicht ist es auch ein kleiner Aufruf, wieder mehr Offenheit zu leben mit den Menschen da draussen. Seine eigene Art zu leben. Seine Essenz nach aussen zu tragen. Schräg oder eben einzigartig sein zu dürfen oder dass es unsere Lebensaufgabe ist, einzigartig zu sein. Sich zu verbinden mit dem Umfeld geht auf vielerlei Weisen. Ein Blick, eine Geste, ein Lachen.
Es führt zu Stille in der Rastlosigkeit, das Eingebettetsein, eine Sicherheit, welche im Leben ja nicht wirklich existiert.

Martina Melcher

Unsere Gastschreiberin
Martina Melcher (1973) stammt aus dem Unterengadin und ist in Uster aufgewachsen. Nach dem Abschluss des Pharmazie-Studiums an der ETH Zürich (1999) arbeitete sie als Apothekerin und war zu dieser Zeit auch viel auf Reisen (Trekkings in den ­Anden, Himalaya). Nach dem Master in Gesundheit und Ernährung ETH war sie fünf Jahre lang Präventionsberaterin im Check-up-Zentrum der Klinik Hirslanden. Seit 2013 ist sie selbständig als Mentaltrainerin (IAP/ ZHAW) und arbeitete nebenher fünfzehn Jahre in der Dr.-Andres-Apotheke am Stadelhofen. Sie absolvierte Ausbildungen in Pflanzentherapie und Traditioneller Europäischer Naturheilkunde (TEN) und unterrichtet Yoga. – Sie lebt in Zürich, seit 2015 in der Altstadt, wo sie auch ihre Atelier-Praxis für Integrale Medizin und Coaching hat.

Foto: EM