Der goldene Wetterhahn

Bild zum Artikel

Unser Gastschreiber Matthias Mahlmann lebt mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern am Rindermarkt. Hier hat vor langer Zeit einmal ein Junge aus dem Fenster geschaut…

Die erste Begegnung hatte mit Gott zu tun. Ein Junge hatte nämlich im Niederdorf Bekanntschaft mit höheren Mächten gemacht. Er konnte weit oben in seinem Wohnhaus aus einem Fenster über die Dächer sehen und hatte dort einen goldenen Wetterhahn im Sonnenlicht erspäht. Der Hahn war so schön und majestätisch, dass der Junge zum Schluss kam: das muss der liebe Gott sein! Der Junge und der erwachsene Mensch, zu dem er wurde, sind mir sehr ans Herz gewachsen – vielen geht es so mit Heinrich Lee, dem Grünen Heinrich.

Schwieriger Gang durch die Welt
Der Grüne Heinrich ist das, was man einen Bildungsroman nennt, ein grossartiger und noch dazu in zwei auf ihre Art schönen Fassungen. Immer geht es um den schwierigen Gang durch die Welt, um Leiden und die Erfahrung von Schuld, um Glück, durchaus einmal im Überfluss, um die Suche nach dem Sinn und dem Wert menschlichen Lebens, um die Frage nach dem Platz, den man in der Welt finden könnte, wenn die Illusionen verflogen, aber ein paar bessere Hoffnungen geblieben sind. Diese Geschichte ist voll Wehmut und manchmal nackter, roher Trauer, die den Nachdruck, mit dem die Grösse des menschlichen Lebens bekräftigt wird, mit starkem Herz schlagen lässt.

Nachbarschaft
Heute wohnen meine Familie und ich nebenan von dem Haus, in dem Keller seine Kindheit verbrachte und schräg gegenüber von der Weinstube, in der er nicht nur ein Glas Wein trank. Zwei Kinder schliessen nun jeden Morgen die Haustür hinter sich zu und hätten vor fast 200 Jahren einen Jungen getroffen, der Züge dieses Grünen Heinrichs teilte, wenn er auch Gottfried hiess. Sie gehen nun zum Kindergarten Neumarkt und ins Schulhaus Hirschengraben, den Rindermarkt entlang, den Neumarkt hoch, über das Kopfsteinpflaster, das jetzt im Sommer im Morgenlicht glänzt, durch den Schatten der Häuser, manche alt, andere neu und sich mit einer Alterswürde umhüllend, die ihnen nicht gebührt, vorbei an Müllautos, Getränkelieferanten und Leuten, die noch Zeit für einen Espresso haben.
Sie haben einen (meistens, es gibt ja noch die nervigen Eltern) ziemlich schönen Tag vor sich. Der Spass wird nicht knapp bemessen sein und um das, was sie Stück für Stück verstehen von der Welt wird sich ebenso prima gekümmert wie darum, dass sie schon an den Mitkindern ausprobieren, wie es so ist mit wichtigen Sachen wie Achtung, Anteilnahme und Sinn dafür, dass man anderen etwas schuldet. Sie wachsen auf in einem Land, in dem schon seit den Jahren, als der Nachbarjunge seine Schritte durchs Leben machte, die Leute selbst bestimmen, wie die Geschicke des Gemeinwesens laufen sollen. Es hat hier seit dieser Zeit auch nur Frieden geherrscht, auch als rundherum ein Kontinent (und nicht nur der) in Schutt und Asche versank, weil das Land, in dem ich geboren wurde, in politischen Wahn verfiel.
Sie leben mit Rechten, die sicherstellen sollen, dass auch Minderheiten, in den Worten des gerade als Demokraten berühmten Nachbarn, «sicher und beruhigt» sein können. Diese Rechte werden im eigenen Land geschützt, aber auch von der Staatenwelt, in Europa und darüber hinaus, weil eine Lehre aus Krieg und Untaten ist, dass diese Rechte auch international gesichert werden müssen, kein leichtes, aber ein wichtiges Geschäft.

Gute Voraussetzungen
Die Chancen stehen gut, dass die beiden Mädchen etwas machen können aus ihrem Leben, auch wenn sie es zu ein paar anspruchsvolleren Wünschen bringen sollten. Bezahlbares ist natürlich nicht gemeint, sondern eine Art zu leben, die sich angesichts der Erfahrungen der Generationen, die hier wohnten und die ihren am Ende immer raschen Gang durchs Leben schon gemacht haben, wirklich lohnt. Auf dem Weg den Rindermarkt entlang und den Neumarkt hinauf treffen sie lauter nette Leute, jüngere, ältere, unklar ist: wer die lebendigeren sind. Sie treffen Menschen, die aus verschiedenen Ecken der Welt kommen – geografisch, aber auch, wenn man ihre innere Landkarte genauer mustert und die hier doch ganz gut miteinander zurechtkommen. Sie plaudern Züridütsch mit den Kolleginnen und Kollegen, verstehen ihren hanseatisch näselnden Papa, der immer noch am Fenster mit diesem dümmlich-glücklichen Ausdruck hinter ihnen her sinniert und das geschliffene Feinstgriechisch der Mama, das der Papa aus anderen Gründen wieder dümmlich blickend beim Nachtessen belauschen darf. Wie komme ich zu solchen Kindern, fragt er sich am Fenster und versteht, warum die Menschen, die ihn das erste Mal als Vater der beiden kennenlernen, nach einer skeptischen Musterung der denkbaren Möglichkeiten selbstverständlich schliessen: Es muss die Mutter sein!

Die wirkliche Welt?
Ist das die richtige, die wirkliche Welt? Wie passt das zu dem, was Unvernunft, Eigensucht, Engstirnigkeit und Kurzsichtigkeit gerade an allen möglichen Ecken der Welt anrichten, zerstörend, was man nicht leicht wieder aufbaut – Selbstbestimmung, Achtung vor den Rechten der Menschen, auch wenn es einen Rappen kostet, Sinn für die Bedeutung der Einsicht: Es geht für die Menschen nur noch zusammen auf dieser Welt? Wie mit der Unsicherheit, wie lange dieser Planet (Planeten hatten wir gerade in der Schule) unsere Art auf ihm zu leben so ohne Weiteres noch verdaut? Der Tag wird für diese Kinder ziemlich sicher wunderschön werden – auch ihr Erwachsensein?
Immerhin – um die Zukunft kämpft mit Entschiedenheit wohl nur, wer in der Gegenwart schon einmal zu Hause war. Und das kann man nicht nur, aber gerade auch in der Nachbarschaft des goldenen Hahnes auf dem Dach (wer immer es auch sei) jeden Tag aufs Neue in einem beinahe schwerelosen Nebenbei beschert bekommen.

Matthias Mahlmann

 

Unser Gastschreiber
Matthias Mahlmann (1966) ist in Hamburg aufgewachsen und studierte Rechtswissenschaft und Philosophie in Freiburg im Breisgau, Berlin und London. Es folgten Doktorat und Habilitation. Seit 2008 ist er an der Uni Zürich Ordentlicher Professor für Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Internationales Öffentliches Recht.
Vor zehn Jahren zog er nach Zürich an den Rindermarkt, wo er mit seiner Frau Georgia und den beiden Töchtern Alkyoni und Myrsini wohnt. Dreimal die Woche frühmorgens geht er zum Rudertraining auf den See.