Paradiese und Alpträume

Wer in einer Altstadt aufgewachsen ist, verfängt sich immer wieder in den Träumen seiner Kindheit – und stösst sich umso mehr an neuen Bausünden. So auch unser Gastschreiber Armin Kerber.

Der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, erschien mir als Kind wie der Traum einer Altstadt. Die Gassen waren eng und verwinkelt, der Fluss nur einen Steinwurf entfernt, Kopfsteinpflaster begleitete jeden Schritt meiner Kindheit. Doch etwas war seltsam: Alle Häuser waren neu, grade eben erst fertiggestellt, wie von einem anderen Planeten eingeflogen, einige noch im Rohbau, alle sich unauffällig im Fünfzigerjahre-Stil ähnelnd, weder klein noch gross, weder hoch noch niedrig, akkurat und lückenlos standen sie nebeneinander. Falls es doch eine Lücke gab, dann lauerte darin eine Ruine. In fast jeder Gasse gab es noch ein Grundstück, hinter dessen morschen Zaun ein zerstörtes Haus aus einer Epoche lag, die wohl vor der Geburt von uns Nachkriegs-Kindern stattgefunden haben musste.

Reiz und Alptraum der Ruinen
Für mich und meine Freunde bildeten diese Ruinen ein traumhaftes Terrain, sie waren unsere natürlichen Spielplätze, die wir in Besitz nahmen wie Ritter mittelalterliche Burgen und die wir verteidigten gegen die Übernahmeversuche von feindlichen Banden. Für uns Kinder war es ein Paradies, für unsere Eltern ein Alptraum. Sie hatten ihre Kindheit in derselben Altstadt verbracht, die doch eine ganz andere gewesen war. Die Gassen waren damals genauso verwinkelt gewesen, Kopfsteinpflaster hatte ebenfalls jeden Schritt ihrer Kindheit begleitet. Doch die Häuser, in denen sie gelebt hatten, waren alt und jedes anders. Über fast ein Jahrtausend hinweg hatte sich hier eine städtebauliche Partitur entwickelt, die zu den schönsten Altstädten Deutschlands zählte. Einige unserer Eltern waren leibhaftig dabei gewesen, als in nur sechzehn Minuten – länger hat es dazu nicht gebraucht – diese in Jahrhunderten gewachsene Welt in Schutt und Asche zerbombt wurde.

Mahnungen ignoriert
Fast täglich hörten wir die Mahnungen unserer Mütter, niemals in den Ruinen zu spielen. Doch ihre Ängste, dass uns Kindern die Hände weggesprengt werden könnten von einer schlafenden Bombe, die den Krieg überlebt hat, liessen uns kalt. Wir nickten brav, assen unsere Butterbrote auf und fragten höflich, ob wir noch eine Stunde runter auf die Strasse zum Kicken dürften. Dann kletterten wir wieder über den Zaun. Einmal erzählte ein Klassenkamerad, dass er einen Knochen gefunden habe, den er wie eine Trophäe herzeigte, jeder durfte ihn einmal mit der Hand berühren. Erst viele Jahre später kam mir der Gedanke, dass dieser Knochen nicht unbedingt einem menschlichen Skelett entsprungen sein müsse, und mir fiel ein, dass der Junge, der ihn angeblich gefunden hatte, über der Metzgerei gewohnt hat.
Als ich vor dreissig Jahren meine Frau in Berlin kennenlernte, stellte sich heraus, dass sie aus der Schweiz kommt und in einem alleinstehenden Haus aufgewachsen ist, das direkt an einem See lag, dahinter die Berge. Es waren die späten Achtzigerjahren, wir liebten dieselben Filme («Sex, Lies and Videotapes»), schätzen dasselbe Essen (geschmorte Kalbspätzli), erfreuen uns an denselben Landschaften (Bodensee), bevorzugten dieselben Hotels (Albergo Olivedo in Varenna) und machten uns das Geständnis, dass wir am liebsten in der Zürcher Altstadt leben wollten.

Mit Kindern unterwegs
Als wir, inzwischen zu einer Familie mit zwei Töchtern im Kleinkindalter mutiert, Mitte der Neunzigerjahre nach Zürich zogen, hatten wir nach intensiver Wohnungssuche genau zwei Angebote zur Auswahl: Ein komplettes Haus in Oerlikon mit Garten, Garage und Einliegerwohnung (zum Beispiel für ein Au-pair-Mädchen). Oder eine 75-Quadratmeter-Wohnung in der Trittligasse. Der Preis war für beide Mietobjekte identisch. Diskussionslos entschieden wir uns für die Trittligasse. Und kurz darauf für zwei Hortplätze im Hirschengraben.
Unzählige Male bin ich in den letzten zwanzig Jahren durch die Zürcher Altstadt gelaufen, gerannt, flaniert, gehetzt. Habe den festen Händedruck meiner kleinen Töchter gespürt, wenn wir frühmorgens an der roten Ampel gegenüber der Schule Hirschengraben standen und die LKWs messerscharf an uns vorbeidonnerten. Habe die jugendlichen Cliquen mit Dosenbier und Rauchwaren der verschiedensten Art noch spät nach Mitternacht an der Schipfe lachen und johlen gehört, wohin wir inzwischen umgezogen waren – vom 14. Jahrhundert des Oberdorfs mit 1.90 Meter Deckenhöhe ins 17. Jahrhundert mit knietiefen Fenstern.

Siegreiches Schweizer Duo
Es sind diese Parallelschichten, die sich nur in der Altstadt über viele Jahrhunderte so nebeneinander haben legen können. Ich schaue aus dem Fenster und sehe auf einen Renaissance-Prachtbau, ein spätmittelalterlich geducktes Häuschen und eine gesichtslose Bankfiliale. Und ich bin mir dabei durchaus bewusst, dass dieser historische Multi-Komplex nur dank eines siegreichen Schweizer Duos existiert: Der tapferen Zürcher Feuerwehr, die dafür gesorgt hat, dass die Altstadt nie abgebrannt ist. Und der eidgenössischen Kompromiss-Politik, die sich darum gekümmert hat, dass kriegerische Konflikte brav an der Schweizer Grenze haltgemacht haben. – Es gibt bekanntlich verschiedene Arten, eine Stadt fertigzumachen. Man kann sie zubetonieren, sie in Schutt und Asche legen oder zum Museum machen.
Manchmal verlasse ich den Kreis 1 und lande zum Beispiel am Zürichberg, wo das 19. Jahrhundert in Watte eingebunkert liegt. Oder in Züri West in seiner zur Architektur gewordenen Tupperware-Welt. Oder in der Europa-Allee, die wirkt, als hätte man sämtliche Börsen-Gewinne der letzten fünf Jahre in Stein gehauen. Ich komme mir dann vor wie in einem Museum der schockgefrorenen Gegenwart, die nicht mehr in der Lage ist, die Schönheiten und Hässlichkeiten der Vergangenheit für die Zukunft zu speichern.
Dann bin ich wieder zurück im Panorama der Jahrhunderte, und der Renaissancebau, das geduckte Häuschen und die Bankfiliale flüstern mir zu: Es ist kein Traum, sondern ein Privileg, hier leben zu dürfen.

Armin Kerber

Unser Gastschreiber
Armin Kerber (1956) ist in Würzburg aufgewachsen. Psychologiestudium an der Uni in Heidelberg, wo er bis dreissig als Dozent arbeitete. Dann kam er als Dramaturg und Regisseur ans Stadttheater in Konstanz, er lernte seine Frau Marianne Schmid kennen und ging mit ihr drei Jahre nach Hamburg. 1996 Umzug nach Zürich, wo er die Gessnerallee sieben Jahre leitete und für die Expo 02 aktiv war. Danach Abstecher nach Bern (Stadttheater, Paul-Klee-Museum) und fünf Jahre bei der DU-Redaktion. Die letzten Jahre als freier Dramaturg unterwegs unter anderem in Stockholm, Göteborg, Athen und der Schweiz. Er lebt mit seiner Frau seit zweiundzwanzig Jahren in der Altstadt, sie haben zwei Töchter, Paulina und Madeleine.