Singende Füxe, paniertes Kalb

Seit fünfzig Jahren singen, bechern und schlafen die Zürcher Singstudenten im Haus am Neumarkt 2, und seit zwanzig Jahren serviert das Ehepaar Sos in der «Kantorei» Tatar, Wienerschnitzel und Züri Gschnätzlets.

Die Stühle sind von Horgenglarus, neu bezogen, also etwas vom Feinsten. Wer sich auf ihnen niederlässt und am zugänglichen weissen «Mythos» nippt (Fr. 7.50 der Dezi), ahnt wenig vom Mythos und Gewicht der Geschichte. Das Haus am Neumarkt 2 samt dem Wohnturm dahinter, der Grimmenturm, gehörte einst der Familie Bilgeri. Sie wurde vom Nachbarn und Zürichs erstem Bürgermeister Rudolf Brun «vertrieben». Was immer das heisst.
Die Faktenlage ist dürr. Das ist kein Wunder. Die «Vertreibung» muss 1350 gewesen sein. Jedenfalls muss das Haus der Bilgeris mit seiner breiten Fassade mehrere Facelifts erlebt haben seither, aber im Grundriss blieb es dasselbe, ob als Bonneterie für Knöpfe, Reissverschlüsse und Schnallen oder als Beiz, die wahlweise zur roten oder weissen Traube hiess. Seit 1967 gehört das Haus den Zürcher Singstudenten.

Kneipp-Kur der anderen Art
Im ersten Stock liegt die «Kneipp», wo Studenten singen und feiern, unterm Dach liegen fünf Fuxenzimmer, dort lebt eine Handvoll Studenten. Ein «Fux» ist ein Anwärter auf die Mitgliedschaft in der Studentenverbindung. Er wird nach der Biertaufe zum «Burschen» und nach dem Austritt aus der Uni oder der ETH zum «alten Herren».
Als die «Kantorei» vor zwanzig Jahren umgebaut wurde, nahm einer der «alten Herren» die grünen Glaslampen mit und rettete sie sozusagen. Seit der Renovation im Oktober hängen sie wieder im Lokal. Die «Kantorei» wurde in wenigen Wochen generalüberholt – von der Küche bis zum Weinkeller. Der Grundriss des Lokals sieht aus wie ein Telefonhörer. In der Hörmuschel quasi liegt heute die Bar und in der Sprechmuschel das Restaurant. Dort sitzen Ahmed und ich, er bei einer Cola (Fr. 4.50 die Zweideziflasche), ich beim Weissen, und beide beim Blööterliwasser (Fr. 6.– der Halbliter)

Zündhölzer zwischen den Fingern
Ahmed kommt aus Mossul, der zweitgrössten Stadt im Irak. Mossul fiel 2014 in die Hände des «Islamischen Staats» (IS). Ahmed ist Sufi wie sein Vater und sein Grossvater. Die Sufi singen gern und tanzen gern zu Musik. Ahmed floh im Sommer 2015 vor dem IS und kam mit der grossen Flüchtlingswelle via Lesbos nach Westeuropa. Wir sitzen am Fenster, es regnet. «Schön», sagt Ahmed. Regen ist sein Lieblingswetter.
Die «Kantorei» ist berühmt für Tatar, Züri-Gschnätzlets und Wienerschnitzel, also alles vom Kalb oder Rind (wir sind schliesslich am Rindermarkt). Wir bestellen das Wienerschnitzel (Fr. 43.50). Dazu Pommes Alumettes. Die zündholzgrossen Pommes werden in einem viereckigen Sieb serviert, aus dem man sie aufpicken kann. Alumettes mit der Gabel aufspiessen: eine Sisyphus-Aufgabe. «Sehr lecker», sagt Ahmed. Auf unseren Tellern bleibt nichts übrig.

Neu: hausgemachte Kuchen
Thomas und Beatrice Sos haben die «Kantorei» vor zwanzig Jahren als Pächter übernommen. Kürzlich war Jubiläumsfeier, zu der auch die Nachbarn eingeladen waren. Ralph Gubler und Pascal Fischer haben den Umbau und die Inneneinrichtung gemacht (wie schon «Bebec» und «Volkshaus»). Neu ist eine Vitrine für Süssigkeiten, die eine leise Konzeptänderung darstellen, Kaffee und Kuchen am Nachmittag. Die Kuchen sind hausgemacht (von einer Schwägerin von Thomas Sos), das Brot für die Sandwiches ist von John Baker.
Ahmed und ich brechen auf. Es soll in der Nacht schneien. «Dann haben alle eine gute Ausrede, wenn sie zu spät zur Arbeit erscheinen», sagt die gutgelaunte Bedienung.

René Ammann*

Restaurant «Kantorei», Neumarkt 2, Tel. 044 252 27 27. Montag bis Freitag von 9 bis 24 Uhr, Samstag 11.30 bis 24, Sonntag 11 bis 23 Uhr, www.restaurant-kantorei.ch.


*René Ammann isst und trinkt jeweils mit einem Gast, weil es geselliger ist. Diesmal mit dem Iraker Ahmed Ibrahim, der 2015 im Gummiboot nach Lesbos übersetzte.