Stadtdorf oder Dorfstadt?

Unser Gastschreiber Michael Hanak geniesst das beschauliche Dorfleben im Oberdorf, schätzt die Nähe von Freunden und Bekannten wie auch kultureller Institutionen. Und ist fasziniert von den Themen Städtebau und Architektur.

Als ich vor zehn Jahren vom Kreis 4 ins Oberdorf zog, erschrak ich vor der Ruhe. Am ersten Morgen früh eilte ich schlaftrunken ans Fenster, um zu sehen, ob die Stadt noch da war, von der nichts zu hören war. In sonntäglicher Ruhe lag der kleine Platz noch vor dem Haus, einzig mutmassliche Mitglieder eines italienischen Fotoklubs streiften umher, und lichteten mich im Pyjama ab. Seither horche ich den leisen Geräuschen der Stadt: den Fusssohlen auf den Pflastersteinen, dem Plätschern der Brunnen, den jammernden Katzen. Der Klangkünstler und Stadtakustiker Andres Bosshard, Verfasser des lesenswerten Buchs «Stadt hören», verriet mir einmal, dass das Plätzchen mit dem Samichlausbrunnen an der Neustadtgasse sein favorisierter Ruhepol von Zürich sei.

Dorfleben
Die vor allem von Stadttouristen bestaunte Idylle scheint mir durchaus typisch für meine nähere Wohnumgebung in der Altstadt Zürichs. Während durch das Gassenlabyrinth eher wenige motorisierte Fahrzeuge navigieren und dies mit Vorteil vorsichtig, denn es gibt hier keine Trottoirs, so kommen Menschen vielerlei Couleur vorbei: Kinder, die Fussball oder Theater spielen oder die vor dem Brunnen ihre Badetücher ausbreiten, Gruppen, die einer literarischen oder feministischen Themenführung horchen, und weniger Fantasievolle, die den «Foxtrail» suchen. Eigentlich ist fast immer, so erscheint es mit der Zeit, irgendetwas los: Mal blökt ein Schauspieler dadaistische Verse einer Schulklasse zu, mal singt der Hinterhöfe und Plätze besuchende Chor «Hofgesang», und derzeit spielt eine hochmotivierte Truppe die Zürcher Ballade, unter anderem mit dem Song «I de Mitti vo de City».
Mal abgesehen von den mehr urbanen Äusserungen kultureller Art und der Dauerberieselung durch die Eventitis, ist es ein beinahe beschauliches Dorfleben, das im Oberdorf genannten Teil der Altstadt tagein tagaus vor sich geht. Das macht meine Wohnsituation so einzigartig: ein Dorf mitten in der Stadt – oder ist es doch eher ein dörflicher Stadtteil?

Nähe zur Natur
Persönlich bin ich in einem Dorf aufgewachsen, am Jurasüdhang in einem zunehmend verstädterten Bereich des Schweizer Mittellands, dem heute hohes Entwicklungspotenzial prognostiziert wird (von der Gruppe «Bibergeil»). Mein Schulweg führte durch Neubauquartiere und an Bauernhäusern vorbei. Jeder kannte jeden (mehr oder weniger) und man grüsste sich auf der Strasse. Selbst in der Kleinstadt, in der ich die Kantonsschule besuchte, waren die Interessensgemeinschaften und Zirkel bald einmal überblickbar. Als ich des Studiums wegen nach Zürich kam, gefielen mir die Nähe zu Gleichgesinnten einerseits und die Anonymität andererseits. In den ersten Studienjahren waren die Bars im Niederdorf und vor allem die «Bodega» fixe Anlaufstellen, um das Stadtleben zu ergründen. Städtisches Leben besteht für mich vor allem in der Qualität, aus einem Kreis von Freunden und Bekanntschaften sowie einem reichen und vielfältigen kulturellen Angebot selbst auswählen zu können. Heute leben mir nahestehende Personen gleich um die Ecke und von mir geschätzte kulturelle Institutionen liegen in Gehdistanz. Und was mir ausserdem ausserordentlich zusagt, ist die Nähe zur Natur: In wenigen Schritten bin ich am Fluss oder am See, in wenigen Minuten erreiche ich mit dem Mountainbike den Wald und bald darauf den Üetliberg.

Blick auf die Architektur
Städtebau und Architektur faszinieren mich anhaltend. Diese Themenbereiche habe ich zu meinem Beruf gemacht. Doch auch in der Freizeit und in den Ferien besuche ich gerne Städte, erkunde sie und suche mit Architekturführern (analogen und digitalen) besondere Bauten auf, denn Bauwerke erfährt und begreift man am besten mit allen Sinnen. In der Stadt Zürich, die zu meiner Heimat geworden ist, habe ich selbst an Stadt- und Bautenführern mitgeschrieben (unter anderem «Baukultur in Zürich») und berate ich das Amt für Städtebau in Stadtentwicklungsfragen und betreffend Baudenkmäler. Als Kunst- und Architekturhistoriker sehe ich die Stadt und ihre Bauten halt auch aus «professioneller» Sicht. Beispielsweise nehmen manche Leute kaum wahr, dass selbst in der Zürcher Altstadt viele Bauten aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stammen. Exemplarische Exponenten der Nachkriegsmoderne sind das Haus am Neumarkt 26/28 (erbaut 1955–1957 von Werner Stücheli), der Rosenhof (1967 von Benedikt Huber) und die Gemüsebrücke (1972–1973 von Manuel Pauli). Im Zeichen der Modernisierung wurde an der Marktgasse und an der Niederdorfstrasse sogar die Baulinie und damit die Fassadenflucht streckenweise um mehrere Meter zurückversetzt, wogegen der Raumplaner Hans Marti in den 1950er-Jahren mit Analysen des Bestands anschrieb (siehe das Buch «Hans Marti. Pionier der Raumplanung»).
Zeitgenössische Umbauten und Renovationen in der Altstadt interessieren mich ebenso sehr. Aktuelle Beispiele sind die Helferei (2012–2014 von Joos
& Mathys), das Rothus respektive Marktgasse Hotel (2012–2015 von Miller & Maranta) und das Haus Zur Sul an der Neustadtgasse 11 (2014–2017 von Nik Biedermann).
Dass das Cabaret Voltaire in unkonventioneller Weise in einen kulturellen Fix- und Treffpunkt umgewandelt wurde (siehe das Buch «Cabaret Voltaire. Dada – Zürich»), nahm ich als wegweisende Aufmerksamkeitsverlagerung wahr.
Derzeit verbindet sich meine berufliche Tätigkeit zudem auf andere, besondere Weise mit meiner Wohnadresse. Während ich an einem Buch über den Architekten Jacques Schader, bekannt als Erbauer der Kantonsschulanlage Freudenberg und Enge, schreibe, merkte ich, dass gleich gegenüber ein Architekt wohnt, der seinerzeit am Wettbewerb mitgezeichnet hatte. Und eine Gasse weiter ist die Lektorin, mit der ich alle Texte bespreche, zu Hause. Zufall oder Schicksal? Jedenfalls kreuzen sich
im Dorf mitten in der Stadt nach wie vor unzählige Wege, die das Leben bereichern.

Michael Hanak


Unser Gastschreiber
Michael Hanak (1968) ist zwischen Aarau und Brugg aufgewachsen und besuchte die Kanti in Aarau. Nach dem Studium der Kunstgeschichte an der Uni Zürich arbeitete er drei Jahre im Haus Konstruktiv. Seither hauptsächlich selbständige Tätigkeit als Kunst- und Architekturhistoriker. Dazu gehören denkmalpflegerische Tätigkeiten, unter anderem Ortsbildstudien und Schutzabklärungen, schwergewichtig für Industriebauten und -areale und insbesondere für jüngste Denkmäler der Nachkriegsmoderne. Er ist Autor und Herausgeber von Architekturbüchern.
Seit dem Studium lebt er in Zürich, seit zwanzig Jahren mit seiner Partnerin zusammen, die letzten zehn Jahre im Oberdorf.