Wo Stadtgeschichte lebt

Der Werkstattbesuch vom 26. Januar führte an den Neumarkt 4, wo keine klassische Werkstatt die ­Gäste erwartete, wohl aber ein geschichtsträchtiges Haus, in dem ein spannendes Archiv beheimatet ist.

Das Altstadthaus hat am 26. Januar in eine Werkstatt der besonderen Art eingeladen, wo es weder um die Produktion von Würsten, noch um das Herstellen von Handtaschen, Möbeln, Schmuckstücken oder anderen handwerklichen Erzeugnissen geht, in eine Werkstatt, in der vielmehr der Vergangenheit nachgespürt und Stadtgeschichte lebendig gemacht wird, ins Baugeschichtliche Archiv der Stadt Zürich im Haus zum Rech am untersten Neumarkt. Dass dieser Ort und das Thema offensichtlich das Interesse vieler Altstadtbewohner wecken können, bewies die dreissigköpfige Teilnehmergruppe, welche die Archivmitarbeiterin Esther Fuchs zur ausgiebigen Führung durch die Räume des Archivs begrüsste.
Dessen Anfänge gehen zurück bis ins Jahr 1877, als der Zürcher Stadtrat angesichts der damals fortschreitenden grundlegenden Veränderungen des Stadtbildes beschloss, die verschwindenden Bauzeugen früherer Zeiten noch vor deren Abbruch dokumentarisch festzuhalten. Dabei erkannte man pionierhaft schon früh die Vorteile der neuen Fototechnik und begann, neben zeichnerischen und grafischen Bild- und Plandokumenten auch fotografische Stadtansichten zu sammeln. Der Kauf einer Kamera, die Einrichtung eines eigenen Fotolabors und der Einsatz eines festen Kamerateams erlaubten dann seit Anfang der 1930er-Jahre den systematischen Aufbau des Bildarchivs, das heute zwischen 130 000 und 140 000 Dokumente enthält. Das Archiv, das sich früher im Stadthaus, dann in den musealen Räumen des Helmhauses befand, konnte 1976 schliesslich das von der Stadt aufwendig renovierte Haus zum Rech am Neumarkt beziehen. In jeder Beziehung ist dieser Standort ein Glücksfall: Er liegt im Herzen der Altstadt, bietet zudem ­genügend Platz nicht nur für das Baugeschichtliche Archiv, sondern auch für das in den oberen Stockwerken eingerichtete Stadtarchiv, mit dem immer schon eine enge Zusammen­arbeit bestand – und lässt überdies mit seinen wertvollen alten Ausstattungsteilen, bemalten Balkendecken und Wanddekorationen den Atem der Geschichte spüren.

Ausstellungen im Erdgeschoss
Den Auftakt zum Rundgang durchs Haus bildete der Blick in den Ausstellungsraum im Erdgeschoss, in dem momentan einige Architekturmodelle zusammen mit erklärenden Texten und Bildansichten an verschwundene Baudenkmäler erinnern – eine kleine aber feine Schau, die noch bis am 31. März zu sehen ist. Den Abbruch der Fleischhalle, im Volksmund «Kalbshaxenmoschee» genannt, oder des gedeckten Brügglis beim heutigen Globus-Provisorium mögen einige von uns noch erlebt haben, die genaue Lage des ehemaligen Kratzquartiers zwischen Stadthaus­quai und Bahnhofstrasse dagegen kann man sich kaum noch vorstellen. Es war gerade der Verlust dieses letzten Restes der mittelalterlichen Stadt links der Limmat gegen den See hin, der in den 1870er-Jahren den Anstoss zur bauhistorischen Dokumentation gab.

Stadtmodell
Informieren diese aus verschiedenen Gründen hergestellten attraktiven Modelle über das Schicksal einzelner Bauten, so gewährt das grossartige Stadtmodell im Nebenraum einen Gesamtüberblick über den baulichen Zustand Zürichs um 1800. Das in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in 22-jähriger Arbeit vom Architekten Hans Ferdinand Langmack ausgeführte Modell gehört zu den «Pièces de résistance» vieler Stadtführungen, führt es uns doch eindrücklich vor Augen, wie grund­legend sich das Stadtbild in gut 200 Jahren verändert hat; faszinierend sind der Detailreichtum und die Genauigkeit dieser Modellansicht, die nur in einem einzigen Punkt einen Fehler aufweist – eine Quizfrage, der man beim nächsten Besuch im Haus zum Rech selber nachgehen mag.

Lesesaal mit Bilddokumenten
Vor lauter Begeisterung über das alte Zürich im Massstab 1:500 und die Einsichten, die sich daraus zur Stadtgeschichte gewinnen lassen, vergassen wir beinahe das eigentliche Herzstück des Werkstattbesuchs, die Werkstatt, in der gearbeitet wird und die der Öffentlichkeit für eigene Forschungen zur Verfügung steht, den Lesesaal des Archivs im ersten Stock. Auf den langen Regalen sind hier in hunderten von Schachteln die Fotos der einzelnen Gebäude auf säurefreien Kartons aufgezogen. Die Schachteln sind alphabetisch nach den Strassennamen aufgereiht, die Bilddokumente jeweils den Hausnummern folgend eingeordnet, so dass ein gesuchtes Objekt sehr einfach aufzufinden ist. Auf den Unter­lagekartons sind die wichtigsten ­Angaben wie Baujahr und Zeitpunkt ­eines Umbaus oder Abbruchs und wenn immer möglich das Datum der Aufnahme vermerkt. Die vielfältigen Bildsujets reichen von überblicksmässigen Aussenansichten über Aufnahmen von Innenräumen bis zu einzelnen Details von Stuckdekorationen, Wandgemälden, Treppengeländern und vielem mehr. Die älteren Fotografien sind meistens als Kopie greifbar, ihre Originale lagern im ­Depot. Vertiefende Informationen sind über Broschüren, eigens zusammengestellte Hausgeschichten und separat aufbewahrte graphische Dokumente erhältlich. Die originalen Stadtpläne und weitere stadtgeschichtliche Quellen werden im Stadtarchiv aufbewahrt, können aber jederzeit als Scans auf den Lesegeräten oder als Kopien im Lesesaal des Baugeschichtlichen Archivs eingesehen werden.
Vom unkomplizierten Zugriff und der besucherfreundlichen Bedienung profitiert ein gemischtes Publikum aus Architekten, Journalisten, Schülern und Studenten sowie Stadt­bewohnern aller Art, die sich für die Geschichte ihrer Behausungen interessieren. Als Beispiel für die grosse Dokumentenauswahl legte uns Esther Fuchs nochmals verschiedene Ansichten des um 1870 endgültig dem Erdboden gleich gemachten Kratzquartiers vor. – Der Werkstatt­besuch des Archivs endete mit einem Apéro im Erdgeschoss.
Es ist zu wünschen, dass der gross­zügig gewährte Einblick dazu ani­miert, das Angebot des Baugeschichtlichen Archivs intensiv zu nutzen.

Matthias Senn