In der Altstadt und auf der Heide

Unser Gastschreiber Marcus Benz ist im Kreis 1 aufgewachsen. Heute ist er beruflich in der Altstadt tätig, seinen Wohnsitz jedoch hat er in den Kanton Graubünden verlegt.

Aufgewachsen bin ich als privilegierter Hauswartssohn an der Dr. Faustgasse 11, im Hauptgebäude der Universität Zürich. Mein Vater war dort seit 1939 der Chefhauswart. Zusammen mit meinen drei Brüdern, die allerdings 10 und 20 Jahre älter waren als ich, durften wir in einer fantastischen Umgebung unsere Jugend verbringen. Wir tummelten uns um das Bodmer-Haus und im Rechberggarten. Die reifen Früchte waren jeweils eine ideale Zwischenverpflegung. Auch zum Schlitteln und sogar zum Skifahren war der Garten geeignet. Auf der Schönberggasse machten wir unsere ersten Erfahrungen mit dem Trottinett, Velo oder später mit dem Auto. Das Verkehrsaufkommen war damals noch sehr gering und daher waren unsere Aktionen mehr oder weniger ungefährlich. Das Hauptgebäude der Uni war für uns die ideale Umgebung, um «Räuber und Poli» oder «Versteckis» zu spielen. Besonders spannend wurde es, wenn wir uns in Räumlichkeiten des Medizinhistorischen Museums, der Völkerkundlichen Sammlung oder in den riesigen Dachgewölben bewegten. Fussball und Rollhockey spielten wir jeweils im Lichthof und unsere Parties feierten wir im Fechtsaal hoch über Zürich.

Schuljahre
Den Kindergarten durfte ich an der Trittligasse besuchen. Dabei kann ich mich noch knapp an unsere Kindergärtnerin Frau Läubli und an den schönen rückwärtigen Garten erinnern. Im Wolfbach ging ich in die Primarschule und im Hirschengraben, wo ich dank meiner Brüder bei Hauswart Böni sofort namentlich bekannt war, besuchte ich die Sekundarschule. Dass mein Kindergarten- und Schulweg meistens durch den Rechberggarten führte, machte die Sache spannend und entdeckungsreich. Damals hat die Altstadt auf mich einen sehr ärmlichen und verwahrlosten Eindruck gemacht. In guter Erinnerung blieb mir der Schulsilvester. Es ging damals meistens schon sehr früh, um 4 Uhr, los und ganz so brav waren unsere Aktivitäten nicht. Von den zahlreichen Bäckereien und Metzgereien wurden wir immer mit genügend Proviant versorgt.
Spannend finde ich die Personalienliste meiner Mitschüler mit den darin aufgeführten Berufen ihrer Eltern, nämlich: Chauffeur (6 Mal), Hilfsarbeiter (4), Zuschneiderin (2), Kellner (3), Kanzlistin, Schuhmacher, Buchbinder (Hitz – den Betrieb gibt es heute noch), Spediteur, Schlosser, Dreher, Sanitär, Fräser, Küchengehilfe, Goldschmied, Kürschnerin, Securitaswächter, Lageristin, Wäscherin und Glätterin, Metzger (2), Coiffeur, Bauarbeiter (2), Betriebsarbeiter SBB, Verkäufer(in) (2), Netzarbeiter EWZ, Hauswart, Stahlbautechniker, Fernmeldetechniker, Hausfrau (2), Betriebsleiter, Graphiker und Reklameberater, Zollbeamter, Vertreter, kaufm. Angestellte(r) (5). Wirt (4), Hotelier, Artist, Kaufmann (3), Journalist, Kunsthistoriker (Paul Nizon), Arzt.
Die Zu- und Abgänge in der Klasse waren relativ gross und die Klassengrösse betrug im Durchschnitt mehr als 31 SchülerInnen. In der Sekundarschule im Hirschengraben wurden wir dann mit Schülern von Fluntern durchmischt. Was für eine Herausforderung für alle Beteiligten! In guter Erinnerung bleiben mir vor allem die grossen Pausen, welche wir öfters im Spielsalon Frosch (heute ist dort ein Berufskollege von mir, das Antiquariat Zähringer, präsent) verbrachten. Danach meisterte ich zum grossen Erstaunen von Lehrern und mir selber die Aufnahmeprüfung ins Wirtschaftsgymnasium Freudenberg. Und daher musste ich die Altstadt mindestens tagsüber hinter mir lassen.
Ich war nie besonders fromm und hatte trotzdem immer ein positives Verhältnis zur Kirche und deren Geschichte. Getauft wurde ich in der Predigerkirche. Natürlich musste ich auch zur Sonntagsschule gehen. Diese fand damals noch am Sonntagmorgen statt. Um die Kirche herum empfing mich jeweils der Geruch von alkoholgeschwängerter Luft, einige Clochards, Damen in Akquisition und andere übernächtigte Gestalten aus dem Rotlicht-Milieu. – Aber alles war harmlos und friedlich. Als wir mit dem damaligen Pfarrer Cabalzar 1971 ein erstes Rockkonzert in der Predigerkirche organisieren wollten, stiess dies auf keine Gegenliebe. Trotzdem haben meine Frau Trudi und ich 1984 in der Predigerkirche geheiratet.

Aufs Land und an die Arbeit
Nach 1974 hat es mich in die grosse weite Welt und natürlich aufs Land gezogen (Einfamilienhäuschen-Generation). 12 Monate verbrachte ich in Schottland und ich bin als Manager in der Computerbranche während 20 Jahren viel herumgejettet. Wir wohnten mit Tochter Cléa (28 Jahre) und Sohn Ken (25 Jahre) in Seegräben und Feldmeilen. Die Zürcher Altstadt geriet ein wenig in Vergessenheit.

Zurück in der Altstadt
Meine Schottland-Aufenthalte von 1974/75 hatten Spuren hinterlassen. Ich verbesserte dabei nicht nur meine Englischkenntnisse, sondern vor allem wegen meiner merkantilen Ausrichtung habe ich den Geschmack an wertvollen Büchern (und zu schottischem Whisky) gefunden. In der Folge wurde ich Sammler von schönen Büchern und begann nebenbei damit zu handeln.
Ich hatte das Glück, dass meine Frau an meinen Hobbies (nicht dem Whisky) Freude hatte und dass sie bereit war, 1985 das EOS Buchantiquariat Benz zu gründen. 1992 fanden wir die Ladenlokalitäten für unser Antiquariat an der Kirchgasse 22 / Ecke Neustadtgasse und mit einem Schlag war ich zurück in der einst geliebten Altstadt. Hier angelangt, begann ich natürlich die Gassen zu erforschen und konnte dabei hie und da in der Nostalgie schwelgen. Vieles war noch da, manches aber verschwunden. Die Altstadt hat sich von einem armen, schmuddeligen Quartier zu einem vornehmen und gepflegten Wohnbezirk gemausert. Plötzlich waren auch Auslagen vor den Läden und Gartenbeizen in den Gassen gestattet. Dafür ist das Rotlicht-Milieu verschwunden und die Polizeistunde findet heute weit nach Mitternacht statt. Was mich am meisten überrascht oder auch enttäuscht hat, ist der Umstand, dass ich von meinen ehemaligen Mitschülern keinen einzigen mehr in der einst gewohnten Umgebung angetroffen habe.
Zwischenzeitlich wurden unsere Geschäftsaktivitäten auf zwei Antiquariate mit Mitarbeitern an der Kirchgasse ausgebaut. Doch seit 2010 betreiben meine Frau und ich nur noch ein Geschäft mit einem ausgewählten Angebot von bibliophilen Büchern und Kunst (vor allem Graphiken, Skizzen, Gemälde).

Auf 1500 Meter über Meer
Auf anfangs 2012 haben wir unser Domizil auf die Lenzerheide verlegt. Unsere Kinder sind flügge geworden und wir waren wieder in allen Belangen flexibel. Meine Frau und ich fühlten uns mehr zu den Bergen hingezogen und ich verbrachte seit meiner Jugend den Grossteil meiner Freizeit im Kanton Graubünden. Auf der Lenzerheide haben sich wegen unseren verschiedenen Sporttätigkeiten gute Kontakte zu Einheimischen und Gästen entwickelt, was uns den Entscheid für einen Wohnortswechsel vereinfachte.
Als wichtigste Erkenntnisse der letzten zwei Jahre als Niedergelassener auf der Lenzerheide fällt mir spontan Folgendes ein: Das Ganze geht ein bisschen gemütlicher, anständiger und respektvoller vonstatten. Das Gegenüber wird nicht sofort als Feind einstuft und man nimmt sich gegenseitig, jeder in seiner Aufgabe, ernst. Man hilft sich gegenseitig gerne und das ohne Umstände. Aggressivität, wie diese zum Teil in Zürich auf der Strasse abgeht, habe ich nie erlebt. Ich bringe da immer meinen Spruch: Der Bündner fährt zwar schnell, aber nicht aggressiv. Auch mir passiert es, zum Glück in unregelmässigen Abständen, dass ich mir nach meiner Rückkehr auf die Lenzerheide sagen muss: «So, jetzt ein bisschen weniger hektisch!» Dass man sich dort nicht so anonym bewegen und verhalten kann wie in Zürich, ist die logische Konsequenz. Doch diese Nichtanonymität ist mir und meiner Frau einiges wert.
Was uns noch fehlt, wäre eine kleine und bezahlbare Wohnung, als Wochenaufenthalter in der Nähe von unserem Antiquariat. – Dann hätten wir zwei Lebensmittelpunkte.

Marcus Benz


Unser Gastschreiber
Marcus Benz (1953) ist im Kreis 1 aufgewachsen, besuchte die Schulen Wolfbach und Hirschengraben. Ausbildung zum Kaufmann und Betriebsökonom an der Kantonsschule Freudenberg. Sprachaufenthalt in Schottland. 1977 bis 1996 Karriere in der Informatikbranche. Ab 1975 Handel mit wertvollen Büchern, 1985 Gründung des «EOS Buchantiquariat Benz», zusammen mit seiner Ehefrau. Seit 1996 Antiquar an der Kirchgasse. 1993 Mitinitiant und später Präsident der Antiquariats-Messe Zürich im Kunsthaus.
Bis 1974 wohnte er im Uni-Hauptgebäude, später in Zürcher Landgemeinden. Seit 1984 verheiratet, Vater zweier Kinder. Der passionierte Skifahrer und Golfer lebt seit zwei Jahren auf der Lenzerheide.