Glückliche Altstadtjahre

Unsere Gastschreiberin Sylvia Rüdin kann mehrere Jahrzehnte Entwicklung in der Altstadt überblicken. Trotz der vielen Veränderungen lebt sie noch immer gerne hier.

Den Wunsch, einmal in der Altstadt zu wohnen, habe ich in meiner Gymizeit gefasst. Wenn eine Stunde ausfiel, wenn der Unterricht früh fertig war – bei jeder Gelegenheit ging ich hinunter vom Schulhaus Hohe Promenade und über den Pfauen in die Altstadt hinein. Durch die Krautgartengasse übrigens, die es nicht mehr gibt, wo der Beck mit seinem Verkaufsfensterlein war, und das Café Ost mit dem schattigen Garten. Oft bog ich vor der Kirchgasse links hinauf ab und verweilte dann auf meinem Lieblingsplätzchen, der kleinen grünen Sackgasse am Ende der Winkelwiese. Ich wüsste noch manche Häuser, die ich damals gern mein Eigen genannt hätte. Dazu habe ich es dann allerdings nie gebracht.

Zentrale Lage
Aber bereits 1961 zogen wir von Höngg, wo es immerhin ja auch schön war, an den Neumarkt, in eine grosse, prächtige Wohnung. Dort blieben wir dann trotz einfacher Küche und Heizung glückliche 27 Jahre, bis unser Hausmeister starb und die Erben eigene Pläne für das Haus hatten. Die Kündigung war ein Schock. Und wir fanden nichts mehr in der Altstadt. Es folgten sechs Jahre «Exil» im Kreis 6. Sechs Jahre, in denen ich nicht aufhörte zu suchen.
Und dann kamen wir zurück und sind schon wieder 19 Jahre hier, wo wir gerne leben.
Jetzt bin ich allein, und das ist nicht immer so leicht. Aber die Altstadt ist eine wirkliche Lebenshilfe. Ich sehe viele vertraute Gesichter immer wieder; und wenn man sich auch nicht immer lange aufhält, so macht doch ein freundlicher Gruss den Tag heller. Ins Theater, ins Konzert kann ich zu Fuss gehen, es ist nicht weit, und ins Kino komme ich so schon in zwei Minuten, ins geliebte Filmpodium in zehn. Da habe ich eine ansehnliche Auswahl.
Der andere, der umgekehrte Vorteil der zentralen Lage: Freunde kommen gern auf Besuch, wenn sie sowieso in die Stadt müssen. Allerdings ist es schon gut, wenn auch sie zu Fuss oder mit Tram oder Bus anrücken. Für das Auto einen Parkplatz zu finden ist schwierig, oft eher unmöglich. Dass das so ist, macht anderseits die Altstadt lebenswerter und ruhiger als sie sonst wäre.
Allerdings hat jetzt die Velomode dazu geführt, dass es auch ohne Autos gefährlich geworden ist in den Gässchen. Eigentlich ist die Altstadt ja Fussgängerzone… Aber das Bewusstsein für das, was möglich ist und was eben nicht, kommt wohl erst mit der Zeit.

Vieles hat geändert
Im Lauf der Jahre hat vieles geändert. In unseren ersten Jahren war dort, wo jetzt Helen Faigle ihre besonders guten Früchte verkauft, ein Milchladen (das Schild ist noch da). Eine Weile ging ich noch mit dem Kesseli Milch holen. Das Restaurant «Neumarkt» daneben war eine einfache Wirtschaft. Sie wurde dann unglücklich umgeändert und mit rotem Plüsch ausstaffiert, was die alte Kundschaft gründlich vertrieb und keine neue anzog. Nach allerhand Transformationen ist es aber zum Glück wieder schön, gut und wird samt Garten fleissig besucht.
Weiter oben am Neumarkt gab es noch einen Bäcker; am Hirschenplatz die Metzgerei der Brüder Keppler.
Robert Keppler war viele Jahre Mitglied der Kirchenpflege zu Predigern. Mein Mann auch, er sogar zwölf Jahre als deren Präsident.
Das Auto – wir brauchten es beruflich – konnte man in unserer ersten Altstadtzeit fast überall frei hinstellen; ich erinnere mich, wie ich es einmal nach einer schweren Schneenacht auf dem Platz hinter dem Obergericht, wo jetzt der hässliche Riesenanbau sitzt, mit Schaufel und Besen ausgraben musste. Dann kamen markierte Parkplätze, dann Geldautomaten, und wie es heute steht, wissen wir ja alle und sehen ein, dass es so wie früher einfach nicht mehr weitergehen konnte.

Genugtuung und etwas Wehmut
Dass es immer noch ein Glück bedeutet, mitten in der Altstadt zu leben, ist – ja: ein «wunderbares Wunder». Gehe ich durch die Gassen, sehe ich die schönen alten Häuser, freue mich über die vielen besonderen Sachen, die in neuen kleinen Läden ausgestellt sind, oft selbstgemacht, Kleider, Taschen, Hüte, Schmuck, Musikalien und viel anderes. Mit Genugtuung und Respekt aber grüsse ich auch die Altvertrauten, die ihren Platz nicht geräumt haben: Gräb mit der riesigen Auswahl von bequemen Schuhen, den unvergleichlichen Schwarzenbach, vor dessen Schaufenster Touristen staunend stehen und fotografieren, Schulthess mit den juristischen Büchern, den «Schlauch»…
Und denke wehmütig an Verschwundenes: Racher mit allem Künstlerbedarf, Bertschi mit den vielen guten Brotsorten, Bianchi Comestibles, das Kino Nord-Süd, die Buchhandlung Romanica und was sonst noch alles an Gutem verschwunden ist.
Das ist nun wirklich zum Rückblick einer alten Altstadtbewohnerin geworden. In der nächsten Nummer des «Altstadt Kuriers» kommt aber sicher wieder ein junger Mensch dran, denn auch für die Jungen ist es schön hier.

Sylvia Rüdin

Unsere Gastschreiberin
Sylvia Rüdin (1926) ist in Höngg aufgewachsen und hat die Töchterschule an der Hohen Promenade besucht. Jusstudium an der Uni Zürich mit Dissertation, anschliessend einige Jahre juristische Sachbearbeiterin. Danach war sie 25 Jahre Französischlehrerin am Seminar Unterstrass, bis zu ihrer Pensionierung 1986. Ab 1989 hat sie Karl Schmids Briefe herausgegeben, die 1997 in zwei Bänden erschienen sind. Für das Archiv für Zeitgeschichte der ETH am Hirschengraben ist sie noch heute täglich als Hilfskraft tätig.
Sie war bis zu dessen Tod 55 Jahre verheiratet mit Ernst Rüdin, Malermeister und Fachlehrer.
Sie lebten ab 1961 am Neumarkt und nach sechs Jahren «Exil» im Kreis 6 seit 1994 wiederum in der Altstadt, am Predigerplatz.