Addio a Jula Scherb

Eine eigenwillige «grande dame» hat uns verlassen. Sie fehlt.

Über dreissig Jahre hat sie in der ­Altstadt gelebt, im Niederdorf, und noch länger hier gearbeitet, in der 1785 eröffneten Rosen-Apotheke, in der Ära Walther Schoenenberger. Als Jula Scherb an der Steinbockgasse 7 einzog, 1981, war sie bereits im Pensionsalter.
Sie war eine eigenwillige «grande dame», stets perfekt gekleidet, temperamentvoll, herzlich, grosszügig und oft unverfroren direkt, als Chefin in der Apotheke wie als Freundin, liebte ihr «Gläsli» (Sancerre), russische Literatur, sie war NZZ-Leserin, zuletzt nur noch durch eine Lupe.
Im Corriere del Verbano wurde ihr Tod vermeldet als «Addio a Jula Scherb, prima moglie di Piero Chiara»; sie war mit dem italienischen Schriftsteller (1913-1986) kurze Zeit verheiratet gewesen.
Kennengelernt hatte ihn die in katholischen Instituten im Welschland sozialisierte Adoptivtochter des Zürcher Orthopädie-Professors Richard Scherb, ehemaliger Direktor der Universitätsklinik Balgrist, auf ihrer Maturreise. Sie heirateten 1936 in Mailand, übers Jahr kam Sohn Marco zur Welt.
Nach dem Scheitern der Ehe studierte sie Pharmazie und Philosophie und war lebenslänglich die Gefährtin des italienischen Philosophen Guido Morpurgo Tagliabue (1907-1997).
Mit 70 konvertierte sie zum Judentum, dem Glauben ihres leiblichen Vaters. Dass Marco 2011 unerwartet starb, war ein letzter Schicksalsschlag. Dank der Spitex Kreis 1 und ihren Nachbarinnen war es möglich, dass sie bis zuletzt zu Hause bleiben konnte.
Oft lud sie Gäste ins «Madrid» ein, zum 95. Geburtstag organisierte sie ein Fest im «Rechberg».
Jula Scherb starb am 10. Juni, mit 96 Jahren.
Bestattet wurde sie auf dem Friedhof der jüdischen liberalen Gemeinde in Albisrieden.
Ihre dringliche Frage «Bist du gläubig?» war nie rhetorisch gemeint.
Sie fehlt.

Esther Scheidegger