Schwester Hedwig, Fräulein Fülscher

Ein Buch über Zürcher Wirtinnen erzählt von Serviertöchtern, Chasseusen, Variété-Tänzerinnen und von wackeren Diakonissinnen.

3000 Frauen hätten in Zürich ums Jahr 1910 in Gastwirtschaften mit Alkoholausschank gearbeitet, so schreibt eine der Autorinnen des Buches «Fräulein, zahlen, bitte», die meisten «jung und ledig». Etwa Anneliese Rüegg aus Uster, die man an ihrem 14. Geburtstag in einer Fabrik an die Spinnmaschine setzte. Die Arbeit sei hart gewesen, «schlecht bezahlt und gesundheitsschädigend». Daher wechselte Anneliese 1895 mit 16 Jahren ins Gastgewerbe und servierte im «Metzgerbräu» in Zürich. Sie erhielt weder Zimmer noch Lohn und war, wie jahrzehntelang üblich, auf das Trinkgeld angewiesen (das 15 bis 20 Prozent betrug und auf die Konsumation geschlagen wurde). Der Ustermerin gefiel die Arbeit, sie lernte Studenten kennen, reiste nach Alger, Neapel und Venedig und traf – zur Kommunistin geläutert – in Moskau gar Lenin, bevor die Realität in Russland sie auf den Boden zurückholte.
«Zuerst waren wir zu dritt», erzählt eine weitere Frau vom Land, «dann beging die eine Selbstmord und die andere heiratete den Patissier, der für uns arbeitete (und von dem sie schwanger war; Red.). Da sagte die Chefin, ich könne das Buffet jetzt alleine führen.» Da war die Frau 18 und stand hinter der Theke des Cafés «Oleander» am Zeltweg. Man schrieb das Jahr 1947, und 1949 war auch die alleinige Buffettochter schwanger, von einem Gast allerdings, der sie heiraten wollte. Sie nähte fortan Schlüpfer und führte im Jelmoli Still-BHs vor und Schwangerschaftskorsette.

Tee und Brot und Gottes Wort
Ein anderes Fräulein war am HB «abgefangen worden» (so steht es im Buch) und wurde von der Frau Pfarrer in die «Auffangstelle für gestrandete Mädchen» eskortiert. «Was wäre sonst aus ihr geworden!», sorgte sich Schwester Hedwig im Haus «zum Luchs» an der Schipfe, und vermittelte das Landei für Fr. 2.50 Gebühr als Arbeitskraft an «anständige Herrschaften» am Zürichberg.
Blieben die Aufgefischten im Martha-Haus an der Schipfe wohnen, zerstreute Schwester Hedwig allfällige Gedanken an ein «unredliches Leben», indem sie den Mädchen an ihrem einzigen freien Tag, dem Sonntag, Tee und Brot und Gottes Wort servierte. Das war zwar redlich, doch die Undankbaren zogen das Tanzvergnügen in «gefährlicher Umgebung und Bekanntschaft» vor, bis Schwester Hedwig den Bettel hinwarf.
Lilly Stiefel wird mit 15 zu einem Grossbauern geschickt, als Haushalthilfe bei Kost und Logis und 20 Franken Lohn im Monat. «Meitli, geh ins Gastgewerbe, da verdienst du Geld!», rät ihr Götti der inzwischen 19-Jährigen. Bald dreht Lilly als Chasseuse ihre Runden, mit Zigaretten, Patisserie und Sandwichs im Bauchladen – bis ihr ein Gast «ein bisschen mehr» geben will, vorausgesetzt, er darf ihr die Banknote in den Ausschnitt schieben. Sie quittiert den Dienst.

Lob und Dank, Sepia und Hulda
So lesen sich die spannenden, kuriosen und zuweilen tragischen Geschichten, die die 16 Autorinnen mit enormem Aufwand an Recherchen und in Gesprächen zusammengetragen haben. Dafür gehört ihnen viel Lob und Dank und Anerkennung. Ihr Verein führt Stadtrundgänge zum Thema Frauen in Zürich durch. Auch das ist eine prima Sache.
Weniger gelungen ist der Satzspiegel: Das Buch ist in einem dunklen Lila gesetzt. Das mag ideologisch begründbar sein, besonders lesefreundlich ist es nicht. Zudem sind die alten Fotos in Sepia gedruckt und die verschwindend kleinen Bildlegenden in blassem Ocker auf SK 4, einem Papier, das normalerweise für Zeitschriften verwendet wird. So schade! Fabienne Erni ist doch eine wirklich hervorragende Gestalterin!
Noch etwas zum Inhalt: Zürichs legendärste Wirtin, Hulda Zumsteg, und ihre «Kronenhalle» erfahren keine Würdigung, und über Margaretha Hotz, der ersten Frau, die im Kreis 4 eine Bar führte, die «Alte Stube» an der Kanonengasse (heute: «Le Cactus»), wird kein Wort verloren. Als Mann und Beizersohn, der auch schon länger auf diesem Planeten zu Gast ist und dessen Mutter den Laden schmiss, las ich zudem mit Erstaunen und Befremdung, eine Serviertochter hätte «dem Kunden zu Diensten stehen» müssen, Trinkgeld als einziger Lohn (meist neben Kost und Logis) sei «spezifisch frauenverachtend sexistisch» gewesen, in einem Variété aufzutreten verwerflich und das Leben als fromme Diakonissin erstrebenswert. – Trotz diesen Wermutstropfen gehört «Fräulen, zahlen, bitte!» unbedingt ins Bücherregal. Es ist eine reich gefüllte Schatzkiste und ein Sittenbild aus Zürich, das dem Leser eine faszinierende Lektüre verschafft – ob die Autorinnen von Fräulein Fülscher erzählen, deren Kochschule am Zürichberg Tausende höherer Töchter an den Herd trieb, ob von Amanda und ihrer «Schnuderstube» oder von Regula Pfister, die den Zürcher Frauenverein mit Hochprozentigem zu neuer Blüte brachte.

René Ammann

Verein Frauenstadtrundgang Zürich (Hrsg.):
«Fräulein, zahlen, bitte!» Limmat Verlag,
327 Seiten, Fr. 49.90.