Von der Garten- in die Altstadt

Unsere Gastschreiberin Patrizia Stotz ist von der Agglomeration her kommend über etliche Stationen in die Altstadt gelangt. Davor hat sie bereits in einer anderen Altstadt gelebt.

Ich bin kein Kind der Altstadt. Da wo ich herkomme, waren die Mauern neu. Keine Geschichten versteckten sich in ihnen. Ich komme aus «der Gartenstadt» Benglen, die 1972 aus dem Boden gestampft wurde. Die Elementbauweise machte dies möglich. Die Wohnungen hatten alle denselben Grundriss. Da wir parterre wohnten, konnte ich durchs Fenster raus und durchs nachbarliche Fenster meiner Freundin wieder einsteigen. Das erste Geräusch am Morgen waren die Kuhglocken. Heute liegt der Ort direkt an der Südschneise und wird vom Fluglärm geplagt.
Wir Kinder waren in Gruppen unterwegs, im Wald oder auf unserem ureigenen «Kletterturm» der Hochspannungsleitung, die mitten durchs Dorf führte. Einmal die Woche kam der grüne Migros-Bus. Hier durften wir neben den Einkäufen, die wir für unsere Eltern tätigten, auch einmal eine Glace kaufen. Einen Briefträger gab es nur für Paketpost. Die Briefpost wurde im Zentrum in die Postfächer verteilt. Als Kind mochte ich die Gartenstadt, den Retortenweiler mit 1900 Einwohnern.
Mit dem Heranwachsen hat sich mein Blick auf die Häuser geändert. Ich verliess die Gartenstadt, um im letzten Jahr des Gymnasiums nach Zürich zu ziehen. Mit Freundinnen bewohnten wir fortan zu dritt eine Wohnung an der Kasernenstrasse mit freiem Blick auf die Sihl. Dieses Haus war alt. Am Nachbarhaus prangte die legendäre Isotta-Werbung und, viel später, die Todesanzeige der «Wohlgroth». Eine ansehnliche Schar von Kakerlaken bewohnte ausserdem die Häuserzeile zwischen «Clipper» und «Hafenkneipe». Aber wir waren frei. Vorbei die Zeiten, wo wir den letzten Bus erwischen mussten, der uns zurück in die heimische Agglomeration brachte. Unsre Nachbarn waren lauter und wilder als wir.

Fragiles Gleichgewicht
Nach der Matura fing ich bei Walter und Ewa Schöpflin im Zunfthaus zum Grünen Glas an zu kellnern. Hier wurden in den Morgenstunden Lieder von der französischen Sängerin Barbara gespielt. In Frankreich eine Legende, hört man diese Musik hierzulande nur sehr selten. Jedenfalls gefiel mir diese Mischung aus Zerbrechlichkeit und Stärke schon immer ganz besonders. Dies lässt sich auch über die Altstadt sagen. Unsere Häuser stehen auf festen Fundamenten. Die Spuren der Geschichte sind allgegenwärtig. Immer war schon jemand vor uns da. Die Identität ist aber auch gefährdet. Das Gleichgewicht von Alt und Neu, von Wohnen und Ausgeh- und Vergnügungszone ist ein fragiles.
Neben der frankophonen Stimmung, die es bot, war das «Grüne Glas» auch Treffpunkt einer ganz ansehnlichen Altstadtclique, die hier allabendlich ihr Bier trinken kam. Schon sehr bald wusste ich, wer das Bier gerne temperiert trinkt und wer gleich zwei Stangen aufs Mal möchte. In der Küche jedoch befand sich das wahre Paradies. Marcel, der Chefkoch, verstand es, seine Mannen zu dirigieren. Geschickt hantierten sie mit Töpfen und Pfannen und wen wundert es da schon, dass ich mich ganz schrecklich in einen Koch verliebt habe und mit ihm bald schon in eine kleine Wohnung an der Weiten Gasse zog. Mein erstes Altstadtzuhause. Leider muss ich dazu sagen, es war ein unglückliches Zuhause oder unsere Liebe vielleicht zu gross für die kleine Wohnung mit den niederen Decken.

In der Genueser Altstadt
Also flüchtete ich von dort an die Manessestrasse, direkt an den Autobahnzubringer. Ich studierte unterdessen an der damaligen Kunstgewerbeschule und kellnerte nebenbei im «Mère Catherine» – die Altstadt blieb mir also erhalten. Gewohnt habe ich die nächsten Jahre, unterbrochen durch Auslandaufenthalte, vor allem in den Kreisen 4 und 5. Nach der Geburt unseres ersten Sohnes packten wir aber erst einmal unsere Koffer und bewohnten eine Atelierwohnung der Stadt Zürich in der Altstadt von Genua. Bald einmal kannten wir viele der Gesichter im Quartier und wir wurden alsbald in die Gemeinschaft aufgenommen. Jeden Tag gegen Nachmittag bewegten wir uns Richtung Hafen zum Spielplatz und abends standen wir jeweils so lange am Hafen, bis die Fähren Richtung Korsika, Sardinien und Tunesien abgelegt hatten. Am liebsten war mir das kleine Stück Meer, welches man vom hintersten Fenster aus erhaschen konnte. In diesen Strassen, die voller Geschichten sind, fühlte ich mich zu Hause. Die Genueser Altstadt ist gross und verwinkelt. An manchen Stellen ist es sehr schummrig und dunkel. Aber dann biegt man ums Eck und plötzlich steht man vor einem Palazzo. Genuas alter Teil ist voller Gegensätze und Überraschungen.

Viele Wege führen nach Haus
Zurück in Zürich und mit der Geburt unseres zweiten Sohnes mussten wir uns nach einer grösseren Wohnung umschauen. Es hat uns nicht zufällig in die Altstadt verschlagen. Eine Mischung aus Geduld und Glück hat uns hierher gebracht. 2007 zogen wir vom Bullingerplatz an die Chorgasse. Wir bewohnen keine typische Altstadtwohnung. Auf neunzig Quadratmetern zählen wir dreizehn grosse Fenster. Die Decke unseres Zuhauses ist hoch. An schönen Tagen scheint die Sonne durch unsere Wohnung hindurch. Empfangen wurden wir hier sehr freundlich. Mein Bub, unterdessen ein richtiger Altstadtbub, wird gerne überall vorstellig. Wie bei vielen Altstadtkindern zog sich sein Heimweg vom Kindergarten jeweils in die Länge, weil er an diversen Orten noch schnell Hallo sagen musste oder es irgendeinen neuen Geheimweg zu erkunden gab.
Unser zweiter Sohn hat den Fokus auf seinen Wegen durch die Altstadt auf das kulinarische Angebot gerichtet. Das Café Schwarzenbach nennt er nur «Sablé», weil er auf dem Vorbeiweg gerne schnell ein hausgebackenes Sablé isst. Dann gibt es natürlich noch die Zuckerzwerge im Hauptgeschäft nebenan, die kleinen Mohrenköpfe, die man in Helens Laden einzeln kaufen kann, die Sportmint-Zältli von Heinz, das Schöggeli in der Wäscherei… Trotz aller süsser Versuchungen steht auch der Forte-Saft des «Saftladens» hoch im Kurs.
Kulinarisch verwöhnt sind wir auch zu Hause, da wir oberhalb des Restaurants «Rechberg» wohnen. Die Kinder dürfen durch den Restaurant-Eingang hinein und werden von Paco, Maria, Javi, Carmen, Sonja und Rogelio jeweils herzlich empfangen. Im Sommer wurden wir dank unseren spanischen Nachbarn sogar ein wenig Fussball-Weltmeister. Im Herbst warten wir auf das Karussell und darauf, dass Roli wieder seinen Maronistand aufstellt. Im Winter zur Weihnachtszeit mieten wir den Veloanhänger von der «Velorei» und holen damit zu Fuss unseren Christbaum vom Bürkliplatz. Das ist irgendwie richtig schön.

Patrizia Stotz

Unsere Gastschreiberin
Patrizia Stotz (geb. 1974) ist in Benglen bei Fällanden aufgewachsen. Kantonsschule Stadelhofen, danach hat sie mehrere Jahre in der Altstadt als Kellnerin gearbeitet. Vorkurs und Filmfachklasse an der Schule für Gestaltung. Hat sechs Jahre gearbeitet als Cutterin, zuletzt als Zeichenlehrerin. Derzeit ist sie daran, einen Master in Kunsterziehung, das Lehrdiplom für die Mittelschule zu erlangen.
Sie lebt seit 1993 in Zürich, seit drei Jahren in der Altstadt, mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern. Sie wirkt mit im Vorstand des Elternvereins und ist Hobbygärtnerin in einem Schrebergarten.