Engel in der Fremde

Unsere Kulinarier spazierten an den Rand vom Kreis 1, ins Selnau-Quartier. Dort liegt das Restaurant «Pompei», benannt nach jener Stadt, die im Jahr 79 von Lava und Asche des Vesuvs zerstört wurde.

Herr Keck und ich wollten ins «Wolpertinger» essen gehen, einem Lokal mit Töggelikasten und Pfeilwurfspiel, einem Stammtisch für Zen-Friedensaktivisten und einem für Bayern, die sich mit Wammerl, Blutwurst-Brötchen und Schafkopf das Heimweh vertrieben. Auf unsere ­Reservation per E-Mail schrieb uns die Wirtin Lilly Wenger zurück, wir kämen leider zu spät, das Schweizer Lokal habe die Chinesen-Übermacht im Quartier nicht überlebt. Auf den 1. August seien die Türen zum «Wolpertinger» für immer geschlossen worden.

Unentdecktes Selnau-Quartier
So buchten wir im «Pompei», einem Italiener am Eck. Das Restaurant wird von derselben GmbH geführt wie das «Madrid» im Niederdorf. Apropos Niederdorf: Für viele Altstädter ist das Selnau-Quartier, wo das «Pompei» liegt, eine Terra in­cognita. So auch für die Kulinarier, die den Schanzengraben nur selten überschreiten.
Herr Keck war zwei Sekunden früher eingetroffen, und wir begrüssten uns vor dem Lokal mit seinem elektrischen Pizza-Ofen, historisierender Malereien aus Pompei und einer Front bekleideter Schaufensterpuppen aus der Neuzeit. Da das Wetter zu halten versprach, kamen wir überein, draussen zu essen.

Polizisten und Pinot grigio
Der Kellner gab uns einen kleinen, weiss gedeckten Tisch direkt an der Strasse. Das hatte zwei Vorteile: ungehindert Rauchen und die Sitten im regen Strassenverkehr von Nahem beschauen. Jeder zweite Autofahrer telefonierte. Die Velofahrer auf dem Trottoir ebenfalls. Nur die Töfffahrer telefonierten nicht. Sie hätten bei dem Krach ihrer Motoren sowieso nichts gehört. In meinem Notizbuch steht «DRÖHN» und der Satz: «Wir sollten uns zu Polizisten umschulen lassen!» Ich weiss aber nicht mehr, ob er von Herrn Keck stammte oder von mir. Der Wein war nicht schuld am Gedächtnisverlust. Wir nippten an einem Dreier süffigen Pinot grigio aus dem Friaul, zu Fr. 7.– der Dezi.
Herr Keck tat sich an seiner Insalata mista gütlich und fand Qualität, Menge und Preis «prächtig». Im ­«Puurolagg» koste der 19 Franken und nicht Fr. 12.50 wie hier, meinte er. Mein Parmaschinken mit Melonenschnitzen war tipptopp – und preislich entgegenkommend: Fr. 18.50. Wie üblich, stieg Herr Keck auf Roten um, einen Barbera d’Asti Martinette (Fr. 7.– der Dezi, acht ­Monate im Fass gelagert). Ich blieb beim Weissen und beim Mineralwasser.

Risotto und Nonnen
Als Herr Keck beim Risotto mit frischen Steinpilzen zu Fr. 26.50 war («ausgezeichnet, sämig, gut gewürzt und die Funghi findet man mühelos»), erklang im Bauch des Restaurants «Tanti auguri a te». «Tja», sagte Herr Keck enttäuscht, «ein Geburtstagslied ab Band. Im ‹Ferlin› singt das die Equipe!»
Mein Tris di Pasta (dreierlei Teig­waren) war, wie der Zürcher sagt, «rächt». Penne und Taglierini aus dem Päckli, die Teigtaschen hingegen frisch gemacht. Das Tiramisù blieb mangels Kapazität auf der Strecke. Wir verabschiedeten uns höflich vom Inhaber, Giovanni Titaro, und zottelten gemeinsam ins Dörfli zurück. Herr Keck kurzärmlig und grosskariert.
Ah, da kommt mir noch etwas in den Sinn. Beim Stichwort «Geburt» sagte ich zu meinem Gegenüber: «Ich wurde gleich ums Eck geboren. Im Sanitas an der Freigutstrasse. Bei Nonnen! Die Klinik ist längst geschlossen. Einmal sah ich ein Föteli eines Patientenzimmers. Es hatte eines dieser Eisenbetten drin, und ich wog viereinhalb Kilo, und bei der Geburt haben sie mir das linke Schlüsselbein gebrochen, weil ich so dick war, nehme ich an.»
Einen Tag später schickte mir Herr Keck ein E-Mail. Ich sei «eindeutig im Kreis 2 geboren worden, auch nicht schlecht.» Hingegen sei das «Pompei» eindeutig im Kreis 1, denn die Grenze verlaufe oberhalb der Freigutstrasse rechts zur Sihlhölzlistrasse hinunter.
Und wer mit dem Blick auf die Brandschenkestrasse sitze, sehe ­einen Engel am Sockel eines Gebäudes – und obendrauf eine Riesen­antenne. Für den Mobilfunk.

Von René Ammann*

Pizzeria-Ristorante «Pompei», Brandschenkestrasse 20, 8001 Zürich, Tel. 044 280 18 80. Offen Montag bis Freitag von 11.30 bis 14 und von 18 bis 24 Uhr, Samstag 18 bis 24 Uhr, Sonntag geschlossen. www.restaurantpompei.ch.

*René Ammann und Peter Keck essen und trinken jeweils zu zweit, weil es geselliger ist. Einmal schreibt Herr Ammann, dann wieder Herr Keck.