Von links nach rechts

Unser Gastschreiber Andres Bolliger ist ein Alteingesessener, ja ein Ureinwohner unserer Altstadt. Er lebte sogar schon hier, als hier zu leben noch nicht als chic galt.

Mein viereinhalb Jahre älterer Bruder wurde von meinen Eltern auf eine Schwester vorbereitet. Stolz verkündete er deshalb nach meiner Geburt der Nachbarschaft: «Juhuii, ich han halt es Schwöschterli übercho, s’isch aber en Bueb.» An der Glockengasse 1 hielt also ein «Dresli» statt einer Elisabeth Einzug.
Nebenan in der Schlosserei brannte werktags in der Esse ein Feuer, das man durch die stets offene Haustüre sehen konnte. Das rhythmische Hämmern des Schlossers vereinigte sich mit demjenigen des Kunstschmiedes an der St.-Peter-Hofstatt, welcher – durch ein ebenerdig liegendes Fensterchen sichtbar – am Feuer im Keller arbeitete. Dieses Gehämmer, zusammen mit dem Viertel- und Stundenschlag des nahen St. Peters sowie der Augustinerkirche, dem Pferdegetrampel des Stückguttransportes, den Rufen «Lumpe, Ziitige!» des «Lumpensammlers» und des lang gezogenen «Glaaaseee» des Glasers verschmolzen zu einer ganz besonderen «Musik», welche mich von Geburt an begleitete, für mich Heimat bedeutete und mir tiefe Geborgenheit gab. Sie half mir aber auch etwas darüber hinweg, dass mein Vater auszog, als ich ca. fünfjährig war und meine Mutter meinen Bruder und mich alleine grosszog (was sie ganz toll machte).

Vom Lindsgi zum Franzki
Bei schönem Wetter spielten wir Kinder – weil oft laut und grell kreischend, nicht zur Freude aller Anwohnenden – vor allem auf dem «Petsgi», der St.-Peter-Hofstatt. Wir «halfen» den Arbeitern bei der Renovation des St.-Peter-Turmes und schleppten unter anderem Zahnrädchen der revidierten Turmuhr hinauf. Und als der Film «Oberstadtgass» gedreht wurde, engagierte man uns Kinder als Statisten. Wir verbrachten Stunden bei den Dreharbeiten und fühlten uns furchtbar wichtig. Dass wir im fertigen Film dann kaum zu sehen waren, enttäuschte uns zwar, tat jedoch unserem Stolz, mit den bekanntesten schweizerischen Schauspielerinnen und Schauspielern «zusammengearbeitet» zu haben, keinen Abbruch.
Auch auf dem «Lindsgi», dem Lindenhof, in verschiedenen Hinterhöfen der linken Limmatseite, auf den damals erst bei Jelmoli vorhandenen und deshalb noch besonders attraktiven Rolltreppen oder im Spielzeugladen vom «Franzki» (Franz Carl Weber) waren wir anzutreffen.

Tabuzone
Das Niederdorf war für uns tabu. Abgesehen davon, dass es allgemein einen äusserst schlechten Ruf hatte, hiess es, man sei dort bei den andern Kindern nur ungern gesehen und habe mit Haue zu rechnen, wenn man sich erdreiste, in das fremde Territorium einzudringen (für den Schulweg galt das nicht). Selbstverständlich hielten wir uns ebenfalls strikte an diese freundeidgenössische Tradition. Auch wir trachteten strengstens danach, sich auf die linke Seite verirrende «Niederdörfler» (was früher einem Schimpfwort gleichkam) recht unsanft zu vertreiben.
Den Kindergarten absolvierte ich an der Schipfe, die Schulzeit in den Schulhäusern Wolfbach, Schanzengraben und Hirschengraben.
Nach meiner ersten Ausbildung (zum Schaufensterdekorateur) wollte ich bei Karstadt in Berlin Karriere machen. Meine allererste, dummerweise unmittelbar vor der Abreise nach Berlin entbrannte heftige – dafür umso kürzere – Liebe zog mich allerdings sehr schnell wieder nach Zürich zurück, wo ich erneut an der Glockengasse lebte.
Eine neue Freundin und ich fanden dann eine wunderschöne Wohnung am Rennweg. Dort verbrachten wir einige glückliche Jahre, bis das Haus verkauft wurde und uns der neue Besitzer kündigte, weil die Pläne für den geplanten Umbau vorlagen. Dies war das Signal zur Trennung und ich konnte eine neue Bleibe an der Wohllebgasse beziehen, wo ich nach langen Junggesellenjahren heiratete. (Die Ehe dauerte indes auch nur gerade die verflixten sieben Jahre.)

Seitenwechsel
Dank der «Liegi», in meinen Augen die beste Vermieterin, die man sich vorstellen kann, bekamen wir an der Froschaugasse eine immer noch kleine, dafür aber wesentlich hellere Wohnung, freilich ohne die gewünschte Terrasse (die zu unserer grossen Freude dann aber später anlässlich einer Dachsanierung doch noch eingerichtet worden ist).
Von klein auf war für mich das Niederdorf anrüchig, später allenfalls noch für den Ausgang gut (dem ich in meiner Sturm- und Drangzeit dafür umso exzessiver frönte) – aber zum Wohnen? Nie und nimmer! Die Vorstellung, von der linken auf die rechte Seite der Limmat ziehen und dort leben zu müssen, war für mich grässlich. Als wir dann an einem Samstag im Jahr 1987 umzogen, erlebte ich das so, wie wenn ich zum Schafott geführt würde. Doch kaum an der Froschaugasse angekommen, wurde ich auch schon völlig in deren Bann gezogen. Vom ersten Augenblick an fühlte ich mich absolut daheim und es war mir pudelwohl in meiner neuen Umgebung. Besonders fasziniert(e) mich, dass rundum viele Menschen wohnen und in den meisten Häusern abends Lichter brennen. Es lebt hier – etwas, das auf der anderen Seite der Limmat leider immer seltener passiert und das ich dort mehr und mehr vermisst habe.
Aus dem, der früher überheblich auf die «Niederdörfler» heruntergeschaut hat, ist also selber einer geworden. Ich bin glücklich hier und es gefällt mir an der «Froschi» so gut, dass ich mir kaum mehr vorstellen kann, auf der linken Seite zu leben. Und wenn es heute fast vorwurfsvoll heisst: «Was, du wohnst in der Altstadt? Wie hast du denn das geschafft?», denke ich belustigt an die Sechziger- und Siebzigerjahre zurück, als es ganz entsetzt und mitleidsvoll tönte: «Was, du wohnst in der Altstadt? Also gell, wenn du etwas brauchst, ich etwas für dich tun kann oder wenn du mal an die frische Luft kommen möchtest, lass es mich wissen!» So ändern sich die Zeiten.

Andres Bolliger

Unser Gastschreiber
Andres Bolliger (61) ist in der Altstadt links der Limmat aufgewachsen. Nach der Schule begann er eine Buchhändlerlehre, wechselte dann das Metier und wurde Schaufensterdekorateur. Nach einigen Jahren Berufstätigkeit holte er den KV-Abschluss nach. Als spät Berufener absolvierte er von 1991 bis 1995 die Schule für Soziale Arbeit und arbeitete danach als Sozialarbeiter in einem Jugendsekretariat in Zürich und als Amtsvormund in Zug. Seit drei Jahren lebt er im Ruhestand.

Vor gut drei Jahren ist er als freiwilliger Helfer zum Verein Nachbarschaftshilfe Kreis 1 gestossen. Im Mai wurde er zum Präsidenten gewählt. Er lebt noch immer in der Altstadt, nunmehr rechts der Limmat.