Am 1. Juni gehts um die Wurst

Der Stadtwanderer wendet sich aus aktuellem Anlass gegen ein Fünfsternbaudenkmal...

Lieber Strandläufer

Zuerst mal dies: Meine Schipfe ist keineswegs schattig, wie die deine, sie ist voller Morgensonne. Stadtgeographie ist eine Erfahrungswissenschaft, man kann sie nur durch stadtwandern lernen oder häufiges Zügeln. Dann noch: Sowohl die ETH von Gottfried Semper wie die Universität von Karl Moser sind eine Zierde des Stadtbilds, Merkpunkte der Betrachtung und Hirten der Altstadthäuserherde. Gegen die zwei darfst du nichts Übles äussern. Ihnen Schweizerhüsli vorzuziehen ist eine Sünde wider den städtebaulichen Geist, einfacher ausgedrückt: Kleinbürgerei. Merke dir, oh Strandläufer, den fundamentalen Satz: Das Hüsli ist die Krankheit des Landes. Je mehr Hüsli es gibt, desto übler ist die Schweiz zwäg. Ich erkläre es dir das nächste Mal in der «Tina». Widersinnig ist auch dein «untergenutzt durch Horden von Agglo-Studenten», gemünzt auf die Polyterrasse. Horde, denk ich, sind viele, wenn auch im vorliegenden Fall eine einsame Masse. Hat es Horden, so gibt es Nutzung. Dort sein und gleichzeitig nicht da, das ist ein onthologisches Kunststück, das selbst einem Strandläufer nicht gelingt. Kommt noch dazu, dass ich bisher nicht wusste, dass man an der ETH Agglomeration studieren kann. Nötig wärs hingegen, da hast du recht. Ich muss dir aber noch wegen etwas anderem ins Gewissen pinkeln. Am 1. Juni gehts um die Wurst. Wir stimmen ab: Neues Kongresszentrum Ja oder Nein. Die willfährige Stadtregierung plant das Fünfsternbaudenkmal Kongresshaus abzureissen und es durch einen Klotz zu ersetzten, der aussieht wie das European Headquarter eines amerikanischen Versicherungsgiganten. Ich aber sage dir: Kein Dubai am See. Wenn Zürich ein neues Kongresszentrum braucht, dann anderswo. Schrecklich viel Geld gehe Zürich verloren, wenn wir nicht subito eine Kongresskiste bauen, stell dir vor, 180 Millionen im Jahr! Diesen schönen Batzen verdienen wir aber auch, wenn das Kongresszentrum anderswo steht. Ganz schlau hat unser Stadtrat das Geschäft eingefädelt. Er kauft dem einen Zweig von Krachts Erben für 46 Millionen ein Grundstück neben dem Baur au Lac ab und gibt es dann günstig im Baurecht dem andern Zweig der Familie wieder ab. Die bauen anschliessend ein Hotel drauf. Wäre es da nicht einfacher, Krachts Erben bauten das Hotel auf ihrem eigenen Grundstück gleich selber? Das ist das Strickmuster, nach dem die Finanzierung organisiert wird. Es braucht 19 Verträge unter sechs Hauptbeteiligen, um die Interessen gegeneinander in Schach zu halten. Spitzenarchitektur hat der Stadtrat lauthals für Zürich gefordert. Jetzt präsentiert er uns nur noch Architektur mit Spitzen. Genug des Wutschnaubens, alles ist ganz einfach: du und alle müssen zweimal Nein stimmen. Ich sage dir das schon im April, denn im Mai bist du wieder dran und an so etwas Wichtiges denkst du dann wieder nicht.

Mit bürgerlichem Pflichtgefühl
dein Stadtwanderer