Ethischer Stadtstrand

Die Saison droht. Der Sommer kommt bestimmt, und die Figur fürs Strandbad fehlt noch bitterlich.

Der Bierbauch schwabbelt und die Cellulitis blüht. Kurz, es ist höchste Zeit, an sich zu arbeiten.
Ähnliche Nachtgedanken bewegten auch den Stadtwanderer, als er in Raymond Praktischs Nachlass wühlte. Dort fand er das «Memorandum Stadtbaden», das sich mit dem Limmatschwimmen befasst:
«Die hohe Stadtregierung», steht da, «hat nun schon in einem zweiten Wettbewerb versucht, den Limmatraum aufzuwerten. Der Grossarchitekt Ralph Baenziger, der beim zweiten Anlauf gewann, schlägt einen kubischen Glasbau vor, der anstelle der beiden kümmerlichen Bäume und des schlechten Gewissens in Form von Mäuerchen, Bänkli und welken Blüemli die Wallstatt der abgerissenen Fleischhalle bedeckt. Wohlan, trefflich gezeichnet, doch wie falsch gedacht! Anstelle einer Beiz mehr, schlage ich, Raymond Praktisch, Diplomingenieur, im gleichen Baukörper eine Umkleidestation vor. Das würde erlauben, dort ins Badekostüm zu wechseln, die Kleider sicher aufzubewahren, dann limmataufwärts bis zum Bellevue oder weiter zu wandeln
und sich dort in den Fluss zu stürzen. Gemächlich schwämme darauf Zürcherin und Zürcher bis zum Central oder weiter, wo Treppen ein einfaches Aussteigen ermöglichten. Wer will, machte weiter bis zum oberen Letten und kehrte zur Kleiderbewahranstalt zurück, wo sie oder er wieder zum Alltagsmenschen würde. Nicht aus Bequemlichkeit sollte man dies einführen, sondern aus ethischen Gründen. Es würden sich im Sommer am Limmatquai die Angezogenen und die Halbnackten mischen. Die flussbadenden Taugenichtse stünden den zielgerichteten Verdienern stets vor Augen. Geldstress und Badefreude stünden immer in einem didaktischen Gegenüber. Kein andere Stadt der Welt würde ein lehrreicheres Sommerbild bieten. Zürich braucht Nackte am Limmatquai, damit die urbane Mischung verbessert wird.»
Der Stadtwanderer empfiehlt den Plan sofort auszuführen. Über die Beseitigung von Bierbauch und Cellulitis hat sich Raymond diesmal leider nicht geäussert.