Abschied von Kaspar Streiff

Vielen von uns wird Kaspar Streiff, der am 7. September fast völlig unbemerkt starb, fehlen.

Kaspar Streiff war ein liebenswerter und unangenehmer Zeitgenosse. Denn er war provokant und ehrlich. Gegenüber anderen – und gegenüber sich selbst. Er sprach aus, was die bürgerliche Gesellschaft lieber nicht in Worte kleidet. Und weil er wusste, wie vielschichtig die kleinen Unaufrichtigkeiten des Lebens sein können, bekannte er sich in einer seiner Reportagen zum paradoxen Diktum: «Wahre Lüge ist besser als verlogene Wahrheit».
Geboren wurde Kaspar am 17. Februar 1943 in Wollishofen als Sohn von Elfriede und Bruno Streiff. Sein Vater, ein am Bauhaus ausgebildeter Architekt, erbte mit 26 Jahren ein beachtliches Vermögen, was ihm erlaubte, sein langes Leben frei von jeder Lohnarbeit zu gestalten. Weil man zu Hause nicht von Geld sprach, verlangte Kaspar, von der Situation beunruhigt, mit 18 beim Steueramt Auskunft über das Vermögen seines Vaters und klärte die ahnungslose Mutter auf, die prompt in eine tiefe Ohnmacht fiel. Von dieser Mutter, Elfriede Knapp, die als künstlerisch begabte Weberin im Bauhaus arbeitete, bevor Sie mit ihrem Mann in die Schweiz zog, schreibt Kaspar: «Sie wäre schon gerne zärtlich zu mir gewesen, aber bei den verordneten Hemmungen und dem beträchtlichen Altersunterschied war das nicht lebbar.»
Nach der Matura am Freien Gymnasium nahm Kaspar Streiff Schauspielunterricht und arbeitete als Dramaturg am Schauspielhaus, um 1966, mit 23 Jahren, an die Filmakademie nach Berlin zu gehen, wo er in einer zerrissenen Zeit seine linke Gesinnung fand und einen seltsamen Film realisierte, den er schon wenige Jahre später nicht mehr verstehen sollte, worüber er stets herzhaft lachen konnte.
Zusammen mit seiner ersten Frau, der Schauspielerin Nikola Weisse, kam er zurück in die Schweiz, arbeitete als Dramaturg unter Horst Zankl am Neumarkttheater, sorgte als Hausmann für die zwei Töchter, begleitete seine Frau nach Bremen, verfasste das Anti-Atomkraft-Theaterstück Gorwärts, das quer durch Deutschland gespielt wurde, fand zurück in die Schweiz und arbeitete hier nach seiner Scheidung erst- und gleichzeitig letztmals in einer geordneten Anstellung als Dokumentalist bei Ringier. In den Achtzigerjahren war Kaspar Streiff als freier Journalist tätig, verfasste mehrere viel beachtete, oft sehr persönlich gehaltene, wortgewaltige Reportagen von literarischer Qualität, schrieb unter anderem für Tages-Anzeiger, Weltwoche, NZZ, Magnum und WOZ.
1987 heiratete Kaspar seine zweite Frau Babara, mit der er die beiden Kinder Moritz und Jonas grosszog und meist als Hausmann waltete. Denn zur Jahrtausendwende hin verdüsterte sich die journalistische Szene, die kurzen Formen nahmen Überhand, die grossen Reportagen waren kaum mehr gefragt und viele freie Journalisten verloren ihr Einkommen. Eine der letzten beachteten journalistischen Reportagen Streiffs erschien in der Wochenendbeilage der NZZ: Für das hinreissende Essay über Victor Hugo recherchierte Streiff auf der Kanalinsel Guernsey.
In den letzten sieben Jahren seines Lebens schrieb der universal belesene, kluge Kopf nicht mehr. Er widmete sich seiner Familie, half beim Kinder-Mittagstisch im GZ Altstadthaus, las und trank sich durch schlaflose Nächte hindurch und war konfrontiert mit wachsenden gesundheitlichen Schwierigkeiten.
Vielen von uns wird Kaspar Streiff, der am 7. September fast völlig unbemerkt starb, fehlen. Denn wer einmal an seinem Tisch sass, sich den Streitgesprächen stellte, die unbequeme Ehrlichkeit, die manchmal fast geziert wirkte, ertrug, der wurde nicht nur mit irritierenden Gedankengängen belohnt. Sondern auch mit Kaspars einmaligem Lachen. Ein höhnisches, herzhaftes, zorniges Lachen, das gleichzeitig verletzend und liebenswert war und in dem man bis zuletzt den Buben aus Wollishofen heraushörte, der mehr wusste, als er hätte wissen dürfen und der sich sowohl nach Wahrheit wie nach Zuwendung sehnte, was in unserer Gesellschaft zusammen meist nicht zu haben ist.

Michael Schädelin