Wer ist hier der Depp?

Gastschreiber Ansi Keller lebt und arbeitet in der Altstadt. Er ist bekannt für seine satirischen Reden.

Alle reden von Mozart. Wir nicht. 2006 wird gewiss nicht so lustlos, wie sich die korrekt hochdeutsche Aussprache anhört. Also: Onassis; Mozart; Beckett; Freud; Rembrandt und – das Obergericht des Kantons Zürich. Wenn das keine Steigerung (Klimax!) ist.
Das (zweit-)höchste Gericht des eidgen. Standes Zürich steht am Rande der Altstadt und ist ein unerhört verschachtelter Bau, ober- wie unterirdisch – und wohl auch überirdisch. Die Gebäude haben eine lange Geschichte, und alles, was es an geistlichen oder weltlichen Institutionen hierzustadt gegeben hat, war einmal da domiziliert: Kloster und Kornspeicher; Spital- und Staatskellerei; der eidgen. Kanzler, ein Casino und das erste Theater; die Schanzenkommission und das Stempelamt; der Kriegsrat und das Oberforstamt; Staatsanwaltschaft und Baudepartement, Staatsarchiv und so weiter.
Der erste Präsident war unser Urahne Friedrich Ludwig von Keller zum Steinbock, der begabteste Schweizer Jurist des 19. Jahrhunderts, allerdings von zweifelhaftem Charakter.
Welch erstaunlich segensreiche Arbeit das Gericht in 175 Jahren geleistet hat, möchten wir nur mit einem heute hundertjährigen Verdikt belegen: «Unter dem Ausdrucke ‹Ausländer› in § 18 Strafgesetzbuch» – so schrieben die Richter 1907 – seien «nur die Nichtschweizer, keineswegs die Bürger anderer Kantone verstanden.» Man denke sich einmal aus, das hohe Gericht hätte anders entschieden, und rechne dann auf heutige Verhältnisse hoch: Jeder Schweizer gelte in jedem anderen Kanton als Ausländer, wie unsere 1 639 100 Einwohner ohne Schweizer Pass. (Die addierte aktuelle Summe derartiger Ausländer nimmt der Unterzeichnete von seinen geneigten Lesern gerne entgegen: andreas.keller@gerichte.zh.ch.)

Bloss kein Ärger
Die ausserkantonalen und die ausländischen Deutschen unter uns können nun feldbuschartig sagen: «Wir sind Papst!» Dieser Kürzestsatz schaffte es soeben auf Rang zwei «Wort des Jahres 2005» – nach der «Bundeskanzlerin». Man kapiert – zu spät für die SPD –, dass die Hartz-IV-Reformen endlich zu greifen beginnen: «Deutscher übernimmt Polen-Job!» Der Pontifex maximus ist ja bekanntlich jener Konzern-Vize, der seinen Chef nie zu Gesicht bekommt – nicht einmal beim Betriebsweihnachtsessen!
Nun verstehen wir auch besser, wieso die Aussage der (dann zurückgetreten wordenen) CVP-Kommunikationschefin Monika Spring jüngst derart Aufsehen erregen konnte: «Der Papst ist ein Depp.» Also folgerten die Deutschen: «Wir sind Depp.» Und dies ausgerechnet jetzt, nachdem Altbundeskanzler Gerhard Schröder in Grossbritannien endlich Englisch gelernt hat, und nun übersetzen kann, was «Pleite» heisst: «Germany». Wie dem auch sei: Wir wollen keinen Ärger – weder mit dem ultramontanen Vatikan, noch gar mit unserem grossen Bruder im Norden.

Verrückte Zeiten
Ein Jubiläum ist bekanntlich ein Datum, an dem eine Null für eine Null von mehreren Nullen geehrt wird. Nullen im tatsächlichen Sinne rechnen wir Ihnen aber nun selber noch gerne vor: 1000 – eine Eins mit drei Nullen – ergibt die Summe aus zehn Geburtstagen dieses Jahres 2006! Die Tennis-Asse Borg und Navratilova werden zusammen 100; Bonhoeffer; (Joséphine) Baker; John Huston; Schostakowitsch; (Klaus) Mann und Breschnew bringen es auf schlappe 600 Jährchen. Auf 300 gelangen dann noch der anglo-irische Dramatiker George Bernard Shaw («Man and Superman», 1903) mit dem 28. US-Präsidenten und Friedensnobelpreisträger von 1919, Woodrow Wilson.
Was lernen wir aus alledem? Natürlich wie immer: Nichts!
Oder um es mit Hollywood-Star George Clooney zu präzisieren: «Nein nichts; die Frauen sind mir ein Rätsel.» Jedenfalls sind Frauen mit einer Beinlänge von mehr als 74 Zentimetern weniger herzkrank, wie Wissenschaftler der Universität Baltimore herausgefunden haben. Allerdings ist diese feminine Beinlänge dann oft wiederum gefährlich für schwache Männerherzen.
«Verrückte Zeiten», werden Sie sich bei der Lektüre dieser Zeilen gedacht haben, und Sie, meine verehrten Leserinnen und Leser, haben dabei sicherlich nicht von ungefähr die Länder-Statistik über rasierte Frauenbeine vor dem geistigen Auge gehabt: In der Schweiz sinds immerhin 45 Prozent. Das Schönste jedoch ist: Sie haben recht! Eine britische Statistik misst professionell alle möglichen paranormalen oder schlicht verrückten Phänomene dieser Welt – und siehe da: Der Wahnsinn steigt von Jahr zu Jahr. 1998 war so zum Beispiel genau 4,1 Prozent verrückter als das Vorjahr.

Freudig
Ganz entgegen dem Gerede vom freudlosen kommenden Jahr 2006 – null Sex – wird eben 2006 nicht nur ein Mozart-, Rembrandt- und Obergerichts-, sondern auch ein Sigmund-Freud-Jahr werden: Am 6. Mai jährt sich der Geburtstag des Vaters der Psychoanalyse zum 150. Male. Stimmen wir uns also jetzt bereits auf den Frühling ein und rufen wir mit Adolf Ogi, nur etwas kürzer: «Freud herrscht!»
Wir zitieren freudig (Freud): «Zu allen Zeiten pflegten die, welche etwas zu sagen hatten und es nicht gefahrlos sagen konnten, gerne die Narrenkappe aufzusetzen. Der Hörer, für den die untersagte Rede bestimmt war, duldete sie eher, wenn er dabei lachen und sich mit dem Urteil schmeicheln konnte, dass das Unliebsame offenbar etwas Närrisches sei.»
Post scriptum: Ein Jubiläum hätten wir beinahe vergessen: Vor fast genau einem Jahrhundert, im September 1906, hatte der Betreibungsbeamte des Kreises 1, Robert Amstad, dessen Bureau sich am Rüdenplatz 1 befand, eine doch spezielle Auktion durchzuführen, welche den damaligen Berichterstatter «in die Pampas versetzt» fühlen liess: Versteigert werden sollten «ein Panther, ein Schakal, 2 Füchse, ein halbes Dutzend Adler und Geier und andere wilde Lebwaare». Der Steinbock übrigens wurde genau zur selben Zeit – obzwar kriminell, aber erfolgreich – wieder angesiedelt.

Andi Keller


Unser Gastschreiber
Andi Keller (geboren 1959) ist in Zürich aufgewachsen und besuchte in Engelberg die Stiftsschule. Nach der Matura studierte er Altphilologie und wechselte nach zwei Jahren zur juristischen Fakultät, wo er das Studium abschloss. Danach arbeitete er sechs Jahre in der Bibliothek des Rechtswissenschaftlichen Seminars. Seit zwölf Jahren arbeitet er als Leiter der Bibliothek des Obergerichts.
Seine Leidenschaft ist seit vielen Jahren das Halten von satirischen Reden, die er aus Teilen zusammenfügt, die anscheinend nicht zusammen gehören. Sein Traum wäre eine eigene Bibliothek für seine Tausende von Büchern, die öffentlich zu nutzen wäre. Er wohnte zwanzig Jahre im Kanton Aargau, seit fünf Jahren ist er in der Altstadt zu Hause.