Wecke in ihnen die Sehnsucht

Niklaus Peter, der neue Pfarrer am Fraumünster, hat für den Altstadt Kurier einen weihnächtlichen Beitrag verfasst.

«Wenn du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Leute zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben, und die Arbeit einzuteilen, sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem weiten, unendlichen Meer.» Ein eindrücklicher Satz, der dem grossen französischen Schriftsteller und Mystiker Antoine de Saint-Exupéry zugeschrieben wird.
Und eine wunderbar präzise Beschreibung dessen, wie grosse Dinge zustande kommen, und auch – wie Menschen zusammenkommen. Damit eine gute Sache entstehen kann, braucht es zuerst nicht Organisation, Pläne, Materialien, Finanzierung, sondern es braucht zuerst jemanden, der etwas gesehen hat. Und nicht nur das, er muss von dieser Vision so überzeugt und beflügelt sein, so ergriffen, dass er treffende Worte findet, sie anderen mitzuteilen. Und natürlich: die Vision muss so beschaffen sein, dass andere Menschen genauso angesprochen sind, begeistert, wie er selber ergriffen war. In St. Exupérys Bildwort ist es das Wagnis, ein weites, unbekanntes Meer zu befahren: «… wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem weiten, unendlichen Meer!» Es heisst nicht: Rede ihnen eine Sehnsucht ein. Das könnte wohl nur kurzfristig funktionieren. Sondern: Wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem weiten Meere. Um etwas wecken zu können, muss diese Sehnsucht schon zuvor tief in jedem Menschen geschlummert haben.

Existenziell wichtige Sache
Diese «Sehnsucht nach dem weiten, unendlichen Meer» St. Exupérys meint natürlich nicht eine vage und wohlige Sehnsucht nach Sonne, Weite und Meer, wie man sie in einem Prospekt eines Reisebüros finden kann, sondern sie steht als Symbol für eine existenziell wichtige Sache. – Das ist der Stoff, aus dem die Weihnachtsgeschichte gemacht ist. Sie handelt von einer grossen Sehnsucht. Von einer Sehnsucht, die diese Welt verändert und Menschen zusammenbringt: die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden. Weihnachten bleibt bei uns ja oft im Gefühligen und Atmosphärischen stecken. Bei den Kerzlein, bei der schönen und kindsgerechten Geschichte vom Jesuskindlein im Stall mit dem Esel und dem Ochsen. Das ist eine wunderbare und gute Geschichte, aber die Weihnachtsgeschichte ist weit mehr als nur Stimmung und Gefühl. Denn hier wird die Geburt des Gottesmannes und Friedensbringers Jesus von Nazareth erzählt – eines Menschen, in dem sich nach christlichem Glauben Gott zeigt und deutlich wird, dass er ein Gott der Liebe und Versöhnung ist.
Diese ganze Geschichte beginnt aber schon vor Bethlehem. Sie beginnt mit einer Vision, mit einer Sehnsucht – vergleichbar dem, was St. Exupéry in seinem Bildwort beschreibt: Es ist die Sehnsucht nach einem Friedenreich, in dem alle Menschen ohne Hass und Streit zusammenleben, eine Sehnsucht, die tief in die Geschichte Israels zurückreicht. Der Prophet Jesaja spricht in seinen Visionen, die im 2., im 9. und 11. Kapitel seiner Prophetenworte gesammelt sind, von einem Friedenskönig, der in die Welt kommen und den Frieden bringen wird. Gott wird hier nicht als Supermacht verstanden, als ein noch etwas mächtigerer und noch etwas brutalerer König, sondern als der Gott der Gerechtigkeit und des Friedens. Das war die grosse Sehnsucht, die damals Menschen ergriffen hat. Sie hat den Glauben Israels geprägt, und sie bildet den Verständnishintergrund dafür, was die ersten Christen im Friedensprediger Jesus von Nazareth wiedererkannt und als erfüllt angesehen haben. Deshalb haben sie mit der legendenhaften Geschichte von dem Kindlein im Stall zu Bethlehem ihre Geschichte gesehen: die Geschichte von der Geburt des Friedenskönigs – eben eines Königs ganz anderer Art.

Von der Vision zur Bewegung
Es ist diese Sehnsucht, die wir weitertragen, wenn wir die Weihnachtsgeschichte auch in diesem Jahr wieder erzählen. Und sicherlich zeigt diese Sehnsucht, wie recht St. Exupéry hatte, wenn er davon sprach, dass sich aus einer Vision eine grosse Bewegung entwickeln kann, die Menschen zusammenbringt und sie inspiriert. Die frühen Christen waren zuerst eine winzig kleine, gefährdete Gruppe im römischen Reich, verachtet und verfolgt, aber ihre Vision hat sie zusammengeführt, und ihre Bewegung ist schnell gewachsen, weil sie eine Botschaft verkündeten, die andere Menschen angesteckt und begeistert hat. Erst in zweiter Linie haben sie dann begonnen, gemeinsam darüber nachzudenken, was es braucht, um diesen «unendlich weiten Ozean» zu befahren: Eines der Bilder für die Kirche ist ja jenes des Schiffes, das aus den Stürmen des Lebens rettet. Und das Kirchenschiff – der mittlere Hauptraum in jeder Kirche – heisst deshalb nicht von ungefähr so. Wie unser religiöses Leben in Zukunft gestaltet sein soll, darüber müssen wir nachdenken und miteinander kommunizieren – wichtig aber ist es, dass wir zuerst diese Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit in uns wecken lassen.

Niklaus Peter