Spuren aus der Zeit vor der Korrektion

In den Strassen des Fraumünsterquartiers wird emsig gearbeitet. Einerseits sind hier Kanalisations- und Werkleitungssanierungen im Gang, andererseits archäologische Rettungsgrabungen. Denn hier stand bis zu seinem Abbruch Ende des 19. Jahrhunderts ein Altstadtquartier, das Kratzquartier.

Die langen schmalen Plastikbahnen erinnern von weitem an Gewächshäuser. Doch kein Gemüse wird hier angebaut, im Gebiet zwischen Fraumünster und Stadthausanlage, sondern es werden diverse Werkleitungen erneuert, seit Anfang Jahr. Und diese Bauarbeiten werden begleitet von einem, nein von drei Teams von Leuten, welche die archäologischen Grabungen ausführen. Die Plastikdächer schützen die stundenlang in den Gräben kauernden oder sitzenden Mitarbeitenden ebenso wie das Objekt der Bemühungen: die archäologischen Zeugen früherer Zeiten. Mit Schaufeln, aber auch mit feinen Messerchen und Pinseln wird Schicht um Schicht abgetragen, werden Funde geborgen. Und die im Querschnitt ersichtlichen Schichten werden fein säuberlich fotografiert und gezeichnet. Denn all dies ist nur temporär sichtbar, nach und nach werden die Gräben, sobald die Leitungen verlegt sind, wieder zugeschüttet.
Petra Ohnsorg ist die Ausgrabungsleiterin und koordiniert die Arbeiten der insgesamt 35 Mitarbeitenden mit den Verantwortlichen der Bauarbeiten. Was nicht immer einfach ist, denn beide sollten möglichst ohne Unterbruch arbeiten können: «Glücklicherweise haben wir ein gutes Einvernehmen, die Zusammenarbeit klappt super gut.» Noch bis etwa im nächsten Frühjahr werden die Grabungsarbeiten auf den etwa 1600 Laufmetern dauern, etwas länger als bislang angenommen.

Repräsentative Bauten
«Gründe dafür, dass man ein ganzes Quartier einebnete und neu erbaute, gab es mehrere», erklärt Petra Ohnsorg, die an der Uni Zürich Archäologie studiert hat. Die prosperierende Stadt hatte Raumbedarf. Dass man die Bauvorhaben gerade hier plante, hatte damit zu tun, dass das Kratzquartier keinen besonders guten Ruf hatte. Es wirkte heruntergekommen und es hausten hier Randständige, Prostituierte und seit je auch der Henker der Stadt. So sprach man beim geplanten Abbruch und Neubau denn auch von «Korrektion».
1858 wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, 1862 mit den Planungsarbeiten für das neue Quartier begonnen. Etwas Grossstädtisches sollte es werden. Mit der Umsetzung wurde 1875 begonnen, 1878 bis 1888 wurde die Blockrandbebauung mit dem Kappelerhof erbaut, danach entstand der Zentralhof. 1898 wurde die Fraumünsterabtei abgebrochen, inklusive Kreuzgang, nur die Kirche liess man stehen. Der Stadtbaumeister Gustav Gull erbaute an der Stelle des Klosters das heutige Stadthaus mit einem kreuzgangartigen öffentlichen Durchgang.
In diesem Quartier steht heute die Fraumünsterpost, das stattliche Haus Metropol und als Abschluss Richtung See das Gebäude der Nationalbank.

Frühe Klosterzeit
Unter anderem der bevorstehende Abbruch eines ganzen Quartiers hat im 19. Jahrhundert übrigens zur Gründung des Baugeschichtlichen Archivs geführt, dem wir die gute Dokumentation des Vorhabens zu verdanken haben.
«Vom Fraumünsterkloster wissen wir, dass es 853 von König Ludwig dem Deutschen gestiftet wurde», erklärt Petra Ohnsorg auf unserem Rundgang. «Uns interessiert unter anderem die frühe Klosterzeit, die wir erfassen und verstehen wollen.» War hier vielleicht bereits zuvor ein kleineres Kloster? Vor dem Fraumünster ist eine Schale mit Knochen gefunden worden. Ob das wohl Überreste einer römischen Brandbestattung sind?
Einiges deutet darauf hin, doch die Archäologin möchte erst analysieren lassen, ob es sich dabei wirklich um menschliche Knochen handelt, bevor sie diese Frage beantworten kann.

Aufschüttungsgebiet
«Hier würden wir im See stehen», erklärt Petra Ohnsorg. Wir sind an der Fraumünsterstrasse, vor dem Haus Metropol. Zu frührömischer Zeit bis etwa zum 1. Jahrhundert reichte der See bis zum Münsterhof. Das Klostergelände erstreckte sich sodann bis zur heutigen Kappelergasse, die zwischen Stadthaus und Post verläuft. Hier haben die Grabungsteams die ältesten Schichten gefunden, hier
waren die Ökonomiegebäude des Klosters wie Kornspeicher und Werkstätten. Ab dem 10., 11. Jahrhundert hat man begonnen, das Gebiet urbar zu machen als Siedlungsgebiet. Aus dem 12. bis 19. Jahrhundert stammen mehrere Schichten von Besiedlungsspuren.
Die Stadtmauer aus dem 13. Jahrhundert verlief schräg über die heutige Fraumünsterstrasse zur Börsenstrasse, wo der Kratzturm an der Ecke zur heutigen Bahnhofstrasse, damals der Fröschengraben, einen Eckpfeiler bildete. Und von diesem Turm ist soeben ein Eckquader zum Vorschein gekommen: Geschichte zum Anfassen! Der See reichte bis zur Mauer hin. Später, um 1530/1540, wollte die Stadt Fläche dazu gewinnen und schüttete Land auf. Man hielt die Bevölkerung damals an, ihre Abfälle hier zu entsorgen, um die Aufschüttung zu beschleunigen.
In der Gegend der Börsenstrasse sind also keine Funde aus früheren Zeiten als Mitte des 16. Jahrhunderts zu erwarten.
Über die bisher getätigten Funde wie Grundmauern von Häusern, Reste von Feuerstellen, von allerlei Dingen des täglichen Lebens ist bereits berichtet worden. «Einige seither gefundene Objekte sollen zuerst genauer analysiert werden, bevor über deren Herkunft und Bedeutung etwas Gültiges gesagt werden kann», sagt Petra Ohnsorg mit einem Lächeln, das Neugierde weckt.

Elmar Melliger