Fenster zum Hof und zur Gasse

Unsere Gastschreiberin Mireille Schnyder lebt in der Altstadt, die sie aus verschiedenen Perspektiven kennengelernt hat. Als Schülerin, als junge Frau, als Mutter, unterwegs mit kleinen Kindern…

Es ist nun fünfzehn Jahre her, seit mein Mann und ich mit Sack und Pack über dem Geschäft von Schwarzenbach eingezogen sind, eine Woche bevor unser Sohn Kolja zur Welt kam. Die Wohnung war ein Weihnachtsgeschenk gewesen, nachdem wir die Hoffnung, vor der Geburt noch aus Kreuzlingen nach Zürich zu kommen, fast schon aufgegeben hatten. Und nun, direkt ins Zentrum von Zürich, die Altstadt! In Hottingen aufgewachsen, kannte ich die Gassen der Altstadt von den Zwischenstunden im Gymnasium, wo wir im damals noch grossen Café Odeon rumhingen, um uns schriftstellerisch und fast schon berühmt zu fühlen, von der «Pelzluus», wo wir uns mit den richtig violetten und richtig schlabbrigen, nach Räucherstäbchen duftenden Kleidern eindeckten und das Henna für die Haare kauften, vom Kino Alba, wo uns über Jahrzehnte eine Frau die Billette verkaufte, die selber einem französischen Film entsprungen schien. Die Altstadt war aber auch immer schon das Universum der Bücher, mit der Buchhandlung Rohr, in der alles, auch schon lang Vergriffenes zu haben war, mit der Zentralbibliothek, in deren Zettelkästen die skurrilsten und abwegigsten Schriften, aber auch die wunderbaren, zum Kauf jedoch zu teuren Bücher zu finden waren, mit der Buchhandlung Calligramme, wo man nie ohne Buch, an das man vorher gar nicht gedacht hatte, herauskam.
Und dann waren da die Barbesuche, die zu meiner nun aber auch schon wieder sehr dezimierten Sammlung von Cocktailstickern führten. Die einen Dinge haben sich verkleinert bis heute, andere verändert und ein paar sind nicht mehr da.

Viele Sinneseindrücke
Über dem Schwarzenbach wohnten wir nun mitten im Gewummsel, da, wo die Gerüche der Fischküche der «Bodega» sich mit dem Kaffeeduft und dann (leider) auch mit dem Seifenduft des «Lush» mischten, da wo nachts die Küssereien und Messerstechereien hörbar waren, da wo aber auch der Blick auf der einen Seite in den weiten Himmel führte, bis zum Üetliberg, und auf der andern Seite zum Schober runter, der schon nicht mehr der Schober war. Nicht mehr das Paradies, in das wir als Kinder von der Grossmutter nach dem Zeugnistag in der Schule eingeladen wurden, um eine heisse Schokolade zu trinken und ein Stückchen der Patisserie zu essen und neugierig den Besitzer und Erschaffer dieses Paradieses auf seinem Stuhl in der Ecke zu beäugen. Die Kunstblumen beim Teuscher hatten nicht mehr viel Platz für Erinnerungen gelassen. Lustig war es aber, mit den Kindern am Fenster zu stehen und zuzuschauen, wie vor Weihnachten Elche (vielleicht waren es auch Hirsche), Tannenbäume in allen Grössen, farbige Kugeln und goldene Engel von kleinen Lastern abgeladen wurden und durch die enge Türe verschwanden. Erstaunlich, was da alles reinpasste.
Es war auch dieses Fenster zur Münstergasse, das zum festen Ort für stumme Gespräche zwischen dem noch kleinen Kolja in seinem Tripptrapp und Jürg Amann wurde, der genau gegenüber am Schreibtisch sass und schrieb.
Und es war dasselbe Fenster, durch das im Sommer jeweils immer wieder die unendlich traurigen Klänge der zwei alten Männer heraufklangen, die mit Akkordeon und Geige, alterskrumm und tapfer, Tag für Tag da standen und aus den Ecken der Sonnentage melancholische Schatten hervorlockten.

Neue Ausblicke
Nach drei Jahren zogen wir dann, nun zu viert noch mit Lara, an die Untere Zäune um. Ja, und es war wieder Weihnachten, als wir den Vertrag unterschrieben. Hier waren wir nun nicht mehr mittendrin, sondern am Rand, direkt neben der alten Stadtmauer. Und wieder sind es die Ausblicke, die immer neu locken: hinten in den Hof, wo verschiedene Balkone und eine in Schönheit verblassende und abbröckelnde hellblaue Fassade eines Nachbarhauses ein bisschen Italianità bieten, vorne auf den grossen Platz, wo unermüdlich das grosse Pferd steigt, und weiter, durch die Schneise der Krautgartengasse, bis zur Kirche von Witikon hinauf.
Ganz andere Perspektiven auf die Altstadt öffneten sich beim langsamen Spazieren mit den Kindern, wo jeder kleinste Stein interessant wurde und dann plötzlich auch seine Geheimnisse preisgab. Ich wusste bis zu den Parcours an den Kindergeburtstagen nicht, dass der goldene Drache im Garten der Villa Tobler einen Schatz bewacht, wo ewige Schnecken an der Hauswand kriechen, wo ein Papagei sitzt und wo Löwenköpfe das Geländer zieren. Ja, und bis da wusste ich auch nichts, oder nur sehr wenig, von all den verborgenen, verwunschenen, exquisiten, hängenden Gärten der Altstadt, auch nichts von den Quitten und Kirschen auf der Trittliwiese.
So ist mir in den Jahren hier in der Altstadt klar geworden, dass man viele verschiedene Augen braucht, um die Welt zu sehen, wie sie ist und vielleicht sein könnte. Viele Augen, viele Perspektiven, viele Fenster und viel Zeit.
Zeit, um ganz früh am Samstag zur Gemüsebrücke runterzugehen und einzukaufen, um auf den Gassen stehen zu bleiben und zu schwatzen, vielleicht auch nur zuzuhören. Zum Beispiel dem Rufen und Jauchzen der Kinder, die im Rösslibrunnen plantschen, den russischen Erklärungen von Reiseführerinnen, aber auch den aggressiven Stimmen Streitender in der Samstagnacht oder dem schnellen Klappern von Stöckelschuhen auf dem Trottoir.
Als wir vor fünfzehn Jahren in die Altstadt gezogen waren, hatten wir uns gefreut, in der Mitte von Zürich eine Wohnung zu finden. Dass sich mit diesem Wohnort ein so dichtes Netz an wunderbaren Bekanntschaften und Freundschaften ergeben würde, ein so perspektivenreiches, schönes und immer neu überraschendes Zusammenleben, hätten wir uns nicht träumen lassen. Grund dafür ist aber nicht die Altstadt, sondern sind ihre Bewohner. Also: Danke!

Mireille Schnyder

 

Unsere Gastschreiberin
Mireille Schnyder (1963) ist in Zürich Hottingen aufgewachsen. Sie studierte Germanistik, persische Sprachen und Literatur sowie Kunstgeschichte. Nach ihrer Habilitation in Germanistik arbeitete sie seit 2001 als Professorin an der Universität Konstanz und wohnte in Kreuzlingen. 2003 zog sie in die Zürcher Altstadt und seit 2008 ist sie am Deutschen Seminar der Universität Zürich ordentliche Professorin für deutsche Literatur bis 1700.
Sie wohnt mit ihrem Mann Jurij Murašov und ihren Kindern Kolja und Lara an der Unteren Zäune. Sie war acht Jahre in der Kirchenpflege Grossmünster und spielt Bratsche in einer Kammermusikformation.