Weit vom Stamm

In der Rubrik «Grün&gut» widmet sich der Autor jeweils einem Thema aus dem Bereich Natur in der Altstadt.

«Du glaubst nicht ernsthaft, dass Apfelbäume Äpfel bilden, damit Menschen sie essen können!», ruft mir Martin entgeistert zu. So sehr ich seine Meinung schätze, in diesem Fall irrte er sich grundlegend. Die Geschichte der belebten Welt wäre undenkbar zu erklären, wenn nicht Pflanzen Früchte und Samen bilden, welche von Tieren als wertvolle Nahrungsquellen genutzt werden. Dabei anzunehmen, dass die räuberischen Viecher den wehrlosen Gewächsen die wertvollen Früchte ihres Leibes stehlen, liegt zwar nahe, ist aber falsch. Ohne Mitarbeit der mobilen Tiere könnten sich die verwurzelten Pflanzen kaum über grössere Distanzen ausbreiten. Der Apfel würde vom Stamm fallen und seine Samen dort unten zu keimen versuchen. So entstehen keine Wälder. Nun kommen aber zum Beispiel die Amseln ins Spiel, welche an Wintertagen liebend gerne an Fallobst herumpicken. Sie essen nicht nur das zuckrige Frucht-fleisch, sondern auch die Samen da-raus. Das Fruchtfleisch wird vom Vogel verdaut, die Samen nicht alle. Samen sind von Natur aus im Allgemeinen widerstandsfähig gebaut und überstehen die Passage durch Magensäure und Darmflora oft ungestört. Nur falls die Amsel das Samenkorn ebenfalls zerkaut, kann sie seine Inhaltsstoffe verdauen. Natürlich wird sie das meistens tun, so gut man mit einem Schnabel eben kauen kann. Aber Amseln wissen zwar, dass sie ihr Essen kauen sollten, aber sie tun es auch nicht immer gleich gut. Einige der Samen werden also intakt wieder ausgeschieden. Irgendwo weg vom Apfelbaum. Und vielleicht keimt er ja dort.
Mein Beispiel mit der Amsel lässt sich auf Arven und Tannenhäher übertragen, auf Affen und Cajúfrüchte oder auf Pferde und Zwetschgen usw. Ohne Tiere würden die meisten Pflanzen nicht die ganze Erde bedecken. Pflanzen und Tiere brauchen sich gegenseitig und geben sich dabei etwas, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Deshalb haben sich bei den Blütenpflanzen im Laufe der Evolution um die Samen herum oft Früchte mit zuckrigem, wässrigem, duftendem, vitaminreichem Fruchtfleisch oder Nusskerne mit wertvollen Fetten gebildet. Sie kosten die Pflanze einen enormen Aufwand zur Bildung und nützen ihr selber nichts. Der Samen braucht nur das Wasser zum Keimen. Zucker und Fette sind aber die Energiequellen vieler Tiere, ohne die sie nicht leben können und die sonst in der Natur nicht angeboten werden. Dass wir selber uns am gesündesten ernähren, wenn wir viele Früchte und Nüsse essen, ist das Resultat Jahrmillionen alter Ko-Evolution

Thomas Trachsel