Die Denkmalsfrage

«Erst wenn einer tot ist, ist er gut», sang Georg Kreisler im Lied «Musikkritiker».

Das gilt auch für den kürzlich verstorbenen Diplomingenieur Raymond Praktisch, womit sich die Denkmalfrage stellt. Dass er eines verdient hat, ist offensichtlich, sein Wirken zum Segen der Altstadt ist unbestritten, seine Persönlichkeit wird warm erinnert, seine Erfindungen stehen in täglichem Gebrauche der Menschheit. Darum gründete der Stadtwanderer subito das Komitee Praktischs Denkmal und lädt die Bevölkerung des Kreises 1 zum Beitritt ein. Einfach Name und Adresse in der «Lucy's Bar» abgeben. Doch welches Denkmal ist Raymonds würdig? Ein Standbild zu Pferde wäre für einen einfachen Erfinder wohl zu viel Feldherrenmajestät, den Part übernimmt Waldmann für alle Zeiten und alle Zürcher. Etwas Stehendes wie Zwingli? Raymond war ein viel bescheidenerer Mensch als Huldrych und das Komitee verzichtet von Anfang an auf den Kampf um den Standort von Denkmälern. Das hat schon mit dem «White Cube» nicht geklappt.
Dann sah der Stadtwanderer am Neumarkt 11 die eingemeisselte Inschrift an der Fassade. Genau, das wäre Raymond angemessen. Dort wird an Hans Roelli erinnert, den «Sänger zur Laute». Davon beflügelt entwarf der Stadtwanderer bereits den Schriftzug für Raymond Praktisch, den «Tüftler zum Computer» oder «Erfinder zum Rechenschieber», vielleicht gar «Menschheitsbeglücker zur Maschine»?
Wo aber muss die Inschrift hin? Und an dieser Stelle muss der Stadtwanderer ein Geständnis machen: Das Laboratorium, die Werkstatt Praktischs, lag im Ausland, genauer an der Kaminfegergasse 111, am andern Ufer, jenseits der Limmat. Es gelang dem Diplomingenieur über alle Jahrzehnte dies zu verheimlichen und Ureinwohner des Niederdorfs zu mimen. Er nahm dem Stadtwanderer den Schwur ab, es zu seinen, Praktischs Lebzeiten, niemandem zu sagen. Und nun liegt das offen da und wirft ein eigentümliches Licht auf Raymonds Persönlichkeit. Ist es nicht bezeichnend: Gleichzeitig mit der Heiligsprechung durch das Denkmal beginnt schon die Revision des Urteils über den Menschen. Der Stadtwanderer fasst vorläufig wenigstens definitiv zusammen: Der Diplomingenieur Raymond Praktisch war eine vielschichtige Persönlichkeit, die auszuloten nun seine Lebensaufgabe ist.